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Olga Neuwirth: Porträttext Verlag Ricordi

„Von Kindheit an hat mich einfach alles interessiert. Von Kunst und Politik bis Wissenschaft und der Psychologie. Leidenschaftlich gegenüber allem. Von den kleinen und den großen Dingen in der Welt lasse ich mich gleichermaßen inspirieren, eben von der wunderbaren Vielfalt des Lebens,“ so Olga Neuwirth Anfang 2015 anlässlich einer Pressekonferenz zu ihrem jüngsten Musiktheaterauftrag für die Wiener Staatsoper. Diese Äußerung ist nicht nur bezeichnend für die beinahe grenzenlose Aufgeschlossenheit der Komponistin, sondern kann auch als Leitlinie für das Verständnis ihrer nunmehr fast drei Jahrzehnte währenden künstlerischen Arbeit dienen.

Vielfältige Impulse
Grundlage des vielgestaltigen Schaffens Olga Neuwirths ist das frühe und unerschöpfliche Interesse an Gebieten jenseits der Musik, ihre Neugier und ihr Wille, das Komponieren in einem umfassenderen Sinn auch in ungewöhnliche Bereiche zu treiben und sich von unterschiedlichsten Impulsen aus Literatur, Kunst, Film, Comic oder Wissenschaft, aus High und Low Art, anregen zu lassen, noch bevor dies in der sogenannten „zeitgenössischen klassischen Musik“ zur Selbstverständlichkeit wurde. So erklärt sich Olga Neuwirths intensive Beschäftigung mit Kunstgattungen wie der installativen Kunst, dem Film oder der Fotografie und der bereits in den ersten Werken aus den späten 1980er Jahren eingeschlagene Weg, die Sphären von Populär- und Hochkultur miteinander zu verschmelzen. Aus ihm erwachsen auch die Voraussetzungen für den Einsatz von Technologie, der sich die Integration von Low-Tech-Instrumenten ebenso zunutze macht wie Live-Elektronik.

Kooperationen
Damit einhergehend verfolgt Neuwirth von den frühesten Werken an die Idee, Zeitgenossenschaft sichtbar zu machen. Daher war sie immer schon auf Kooperationen mit Künstlerinnen und Künstlern anderer Sparten bedacht, was sich insbesondere in ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek zeigt. Diese Zusammenarbeit begann mit den beiden Mini-Opern (1990) und reicht über ästhetisch herausfordernde Werke wie das Video-Oratorium „Aufenthalt“ (1994), das Hörstück „Todesraten“ (1997), das Poème choréographique „Der Tod und das Mädchen II“ (2000) sowie die Musiktheaterstücke „Bählamms Fest“ (1993/1997–99) und „Lost Highway“ (2002– 03) bis hin zu den Kurzfilmen „Die Schöpfung“ (2009) und „Das Fallen. Die Falle“ (2010). Darüber hinaus hat auch das Interesse an wissenschaftlichen Phänomenen und Fragestellungen Neuwirths Schaffen auf verschiedene Weise beeinflusst. Beispielhaft hierfür ist die Verwendung eigener Brainwave-Daten für das Kurzfilmprojekt „Composer as Mad Scientist“ (2007). In dem Werk „Kloing!“ (2006–07) hat Neuwirth geophysikalische Erdbebendaten auf einen computergesteuerten Flügel übertragen. Dabei kämpft der live spielende Pianist gegen die wissenschaftlichen Messdaten und historische Vorlagen aus Klavierwerken Chopins, Ravels und Liszts. Durch den zusätzlichen Einsatz von Live-Kamera und Video-Zuspielungen ergibt sich eine musiktheatrale Reflexion über Virtuosität und Maschinelles.

Musik und Medien: Olga Neuwirth als Pionierin
Neuwirths Werkverzeichnis spiegelt die enorme Vielseitigkeit der Komponistin und der von ihr verarbeiteten Einflüsse. Bis heute umfasst es zahlreiche Solostücke, Kammermusik, Ensemble- und Orchesterwerke ebenso wie unter Einbeziehung unterschiedlicher Medien konzipierte Arbeiten. Neben ihrem kompositorischen Schaffen entstanden Performances, Installationen, Schauspiel-, Radio- und Filmmusiken, aber auch Texte, Fotografien, Experimental- und Trickfilme sowie Musiktheaterwerke und zwei Bücher. Die sich hierin abzeichnende Arbeit jenseits etablierter Genres und Gattungen stieß allerdings oft auf Unverständnis; in vielerlei Hinsicht war Neuwirth daher eine Pionierin und Wegbereiterin in ihrer Generation. Mit ihrem Schaffen nahm sie Dinge vorweg, die heute längst selbstverständlich geworden sind. Insbesondere setzte sie sich von Anfang an für die Akzeptanz einer Kombination von Musik und Medien ein. Sie befasste sich gegen teils vehemente institutionelle Widerstände immer wieder auf kreative Weise mit der Verbindung von Musik und Bild. Arbeiten wie der 1989 gemeinsam mit ihrer Schwester Flora Neuwirth nach einer Kurzgeschichte von Leonora Carrington gestaltete Trickfilm, der als Grundlage für die Komposition „Canon of Funny Phases“ (1992) diente, zeugen hierbei von einer Vorliebe für Comics und Animation, die bis in jüngere Werken wie „Kloing!“ hinein eine entscheidende Rolle spielt. Darüber hinaus hat Neuwirth aber auch lange Zeit, bevor dies zur Modeerscheinung wurde, in Kompositionen wie „!?dialogues suffisants!?“ (1991–92) und „Jardin désert“ (1993–94) mit der Idee des Medientransfers gearbeitet. Dabei hat sie unter Rückgriff auf akustische und visuelle Übertragungen aus unterschiedlichen Räumen ausgeklügelte Konzeptionen zur Verbindung akustischer und optischer Medien mit dem Ziel einer Gestaltung alternativer Wahrnehmungsformen entwickelt.

Übertragung filmischer Techniken
Bereits zu Beginn der 1990er Jahre hat die Komponistin filmische Techniken auf das Komponieren von Instrumental- und Vokalwerken übertragen und in unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt. Dies zeigt sich in Musiktheaterwerken wie „Bählamms Fest“ und „Lost Highway“ nach David Lynch. Die Verwendung von Videoschichten und -techniken wie Morphing werden hier in den Dienst ihrer Musiktheaterkonzeptionen gestellt. Sie arbeitete nicht nur mit Filmemachern und Videokünstlern zusammen – so beispielsweise mit der französischen Videokünstlerin Dominique Gonzalez-Foerster bei dem Projekt „... ce qui arrive ...“ (2003–04) –, sondern schrieb auch mehrere Filmmusiken. Neben Stummfilmvertonungen, etwa zu Viking Eggelings abstraktem Film „Symphonie Diagonal“ (2006) oder Alfred Machins Antikriegsfilm „Maudite soit la guerre“ (2014), sind in jüngerer Zeit Kompositionen für den Dokumentarfilm „Erik(A)“ von Kurt Mayer (2004) sowie für die Spielfilme „Das Vaterspiel“ von Michael Glawogger (2007–08) und „Ich seh Ich seh“ von Veronika Franz und Severin Fiala (2014) entstanden. Schließlich hat die Komponistin auch eine Reihe eigener experimenteller Essay-Filme wie „... disenchanted time ...“ (2005) und „... durch Luft und Meer ...“ (2007) geschaffen. Dies alles unterstreicht die Tatsache, dass Neuwirth als Künstlerin keinerlei Berührungsängste kennt und die heute immer stärkere spürbare Aufweichung der Grenzlinie zwischen Technologie und klassischer Musik schon früh produktiv für ihre Arbeit zu nutzen wusste.

Elektronik als integraler Bestandteil
Bezeichnend ist auch der Einsatz von Technologie in ihren Kompositionen, also die Verwendung von Low-Tech-Instrumenten wie den Ondes Martenot (in „Sans Soleil“ aus 1994) oder dem Theremin (im Musiktheater „Bählamms Fest“) sowie die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Live-Elektronik. Bereits in ihren frühen Mini-Opern „Der Wald – ein tönendes Fastfoodgericht“ (1989–90) und „Körperliche Veränderungen“ (1990–91) wird die Live-Elektronik zu einem unverzichtbaren Bestandteil der künstlerischen Konzeption, der vielfache Verzweigungen erfahren hat. Dies zeigt sich zum Beispiel in „The Long Rain“ (1999), einem Werk, das ursprünglich als „Raumklang- Skulptur“ unter Verwendung eines 24-Kanal-Surround-Lautsprechersystems und eines entsprechenden Video-Surround-Konzepts geplant war. Oder auch in Neuwirths jüngster Raumklang-Arbeit „Le Encantadas“ (2014–15) – dort ausgehend von der Idee einer Rekonstruktion der Akustik der venezianischen Kirche San Lorenzo in einem Konzertsaal. Dabei begreift die Komponistin all diese Einflüsse nicht als das Andere, das von außen her an die Musik herangetragen wird, sondern macht sie zu integralen Bestandteilen ihrer künstlerischen Konzeptionen, aus denen heraus sie die jeweiligen musikalischen Diskurse und Narrationen entwickelt.

Ein Kunstbegriff, der die Gesellschaft herausfordert
In der hochgradig differenzierten Klangwelt ihrer Musik erhebt Neuwirth die Arbeit mit Brüchen, mit dem Nebeneinander und der Übereinanderschichtung heterogener Klangereignisse, aber auch mit Zitaten und Anspielungen zu einem ihrer Prinzipien und verbindet dies oftmals mit einem bissigen und hintergründigen schwarzen Humor. Das manifestiert sich unter anderem in ungewöhnlichen instrumentalen und elektronischen Klangkombinationen. Diese Kombinationen sind Signatur eines Kunstbegriffs, der konsequent die Gesellschaft herausfordert und durch vielfachen Bezug auf politische Inhalte vermeintliche Sicherheiten in Frage stellt. Dafür stehen beispielhaft die Verwendung von Kinderinstrumenten im Ensemblestück „Vampyrotheone“ (1994–95), die Einbeziehung einer verstimmten Viola d’amore in der Komposition „La vie ... ulcérant(e)“ (1995), die Verwendung elektronischer Zuspielungen von vierteltönig gegeneinander verstimmten Gamben- und Theorbenklängen in „Lonicera Caprifolium“ (1993) oder die live-elektronisch transformierten Glasklänge in „Bählamms Fest“.

Musiktheater
Entsprechende Strategien hat die Komponistin auch auf ihre szenischen Konzeptionen übertragen, was mitunter zur Auflösung narrativer Handlungsverläufe zugunsten einer vielschichtigen Bühnendisposition führt. Werke wie das auf dem Drehbuch zu David Lynchs gleichnamigem Film basierende Musiktheater „Lost Highway“ sprengen nicht nur den elektronisch-musikalischen Rahmen und reizten zu ihrer Entstehungszeit die technologischen Möglichkeiten bis zum Äußersten aus, sondern brechen auch die Handlung zugunsten einer nicht-progressiven Abfolge von Szenen auf. Die auf Herman Melvilles Roman „Moby-Dick“ fußende Oper „The Outcast – A musicstallation-theater with video“ (2009–11) ist eine musikalisch-szenische Reflexion über die Arbeit des Künstlers, das Schreiben und die Bedeutung von Erinnerung. Das Werk ist ein Plädoyer für Toleranz gegenüber dem anderen, es lenkt den Blick auf die Frage nach den Bedingungen der Künstlerexistenz in einer leistungsorientierten kapitalistischen Gesellschaft.

Identität als Kernthema
Überhaupt gehört das musiktheatralisch artikulierte Nachdenken über künstlerische Identität zu den Kernthemen von Neuwirths Schaffen. Dieses Thema ist nicht nur dort präsent, wo die Komponistin sich primär mit dem Schaffensprozess auseinandersetzt, wie in ihrer für die documenta 12 entstandenen Klanginstallation „... miramondo multiplo ...“ (2007) oder in der Komposition mit Video, ... ce qui arrive ...“ (2003-04). Auch dort, wo die Komponistin die Künstlerexistenz in ihrer Wechselwirkung mit der Gesellschaft zeigt, wird Identität zusätzlich in die Reflexion politischer Zusammenhänge eingebettet. In diesem Sinne fokussiert Olga Neuwirth ihr künstlerisches Schaffen immer wieder auf vielschichtige Künstler- und Außenseitergestalten, die sie im Spiegel sozialer Verhaltensweisen zeigt, um Diskriminierung als Verwobenheit vielfältiger Strukturen aufzuzeigen. Dies zeigt sich in ihrer die Rassenproblematik und strukturelle Diskriminierung thematisierenden Neuinterpretation von Albans Bergs „Lulu“ als „American Lulu“ (2006/2011) sowie in der ebenfalls diesem Themenkomplex gewidmeten Komposition „Eleanor“ (2014). Ebenso gilt dies für ihre langjährige und variantenreiche, seit Ende der 1980er Jahre greifbare Beschäftigung mit Pop- und Jazzmusik, vor allem ist hier ihre Auseinandersetzung mit dem Pop-Countertenor Klaus Nomi zu nennen, die in dem mehrteiligen Liederzyklus „Hommage à Klaus Nomi“ (1998) und dessen als „A Song-Play in Nine Fits“ (2009) zum Musiktheater ausgeweiteter Fassung ihren Niederschlag gefunden hat.

Mechanismen der Erinnerung
Ein eng mit solchen Fragestellungen verknüpftes Anliegen ist auch die Auseinandersetzung mit den Mechanismen der Erinnerung, die sich, gleichfalls seit Beginn der 1990er Jahre in Werken wie den „Five Daily Miniatures“ (1994) und „Pallas/Construction“ (1996) thematisiert, durch Neuwirths gesamtes Schaffen zieht. Klingende Ausprägung findet die Beschäftigung mit dieser Thematik auf jeweils unterschiedliche Weise in Arbeiten wie dem Orchesterstück „Clinamen/Nodus“ (1999) – einer Komposition für Streichinstrumente, zwei mikrointervallisch gestimmte Zithern und Schlagzeug, die anlässlich der Konzerttournee zum 75. Geburtstag von Pierre Boulez entstand –, in den mit Erinnerungsbruchstücken unterschiedlichster Art arbeitenden Konzerten für Trompete („... miramundo multiplo ...“, 2006) und für Viola („Remnants of songs ... an amphigory“, 2009) sowie in „Masaot/Clocks without Hands“ (2013). In diesem 2015 von den Wiener Philharmonikern uraufgeführten Orchesterstück analysiert die Komponistin die Mechanismen von politischem Erinnern und Vergessen und verknüpft dies zugleich auch mit einer Erkundung der Wurzeln ihrer eigenen (künstlerischen) Identität. Mit ihrem gesamten Schaffen dokumentiert Neuwirth, dass sie – als Frau in einer auch heute noch männlich dominierten Domäne tätig – von jeher eine stets scharfe und hellsichtige Beobachterin der politischen Verhältnisse ist. Dabei engagiert sie sich kontinuierlich auch als Kämpferin für die Befreiung der Kunst von inneren und äußeren Zwängen sowie gegen die Vereinnahmung und Funktionalisierung der Kunst. Ihr Wissensdurst und ihre Neugier führten daher schon früh zu jenem eingangs umrissenen Lebensverständnis, zu dem die Leidenschaft gegenüber allem – die Inspiration „von den kleinen und den großen Dingen in der Welt“ – ebenso gehört wie das ständige Umhergetriebensein zwischen Politik und Kunst. Neben anderen Auszeichnungen hat sie 2010 als erste Frau den Großen Österreichischen Staatspreis erhalten; darüber hinaus ist sie seit 2006 Mitglied der Akademie der Künste Berlin und seit 2013 Mitglied der Akademie der Bildenden Künste München.

Text: Stefan Drees

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