olga neuwirth
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Überlegungsfragmente zu einem Musiktheater
© 1994

Wenn ich an ein Musiktheater herangehe, scheint es mir nötig im Labyrinth der Möglichkeiten für mich ganz persönlich einen Zugang zu suchen, aber im Wissen um die verschiedenen Experimente dieses Jahrhunderts wie z.B. "Moses und Aron" von Schönberg, den "Happenings" der 60er Jahre, dem "instrumentalen Theater", den Musiktheaterprojekten eines Luigi Nono, dem Verschwinden der Sprache in ein "imaginäres Theater" wie in Eötvös' "Chinese Opera" oder der Videooper von Steve Reich - um nur einige zu nennen - .

Das Einbeziehen der verschiedenen Künste heute, bedeutet für mich aber nicht eine Synthese der Künste, eine Vereinheitlichung, ein Gesamtkunstwerk, sondern Raum schaffen für die schöpferische Phantasie, um meiner Sprachlosigkeit über die Irrationalität des menschlichen Daseins zu entkommen, damit ich diese Irrationalität in gewisser Weise für mich enthüllen kann, gegen sie einschlagen kann. Dafür benötigt man aber doch auch eine ganze Portion an Ungehorsamkeit und Wut! Deshalb ist es für mich auch klar, daß, wenn ich mich für ein Musiktheater-Projekt entscheide, mit einem Autor der Gegenwart zusammenarbeiten möchte, um von seinen Theatererfahrungen und seinen Erfahrungen der menschlichen Situation heute - die gleichzeitig einen neuen, anderen Ausdruck sucht - zu lernen und Anregungen zu erhalten.

Was mich an den Texten von Elfriede Jelinek interessiert, um es nur kurz anzureissen, ist der distanzierte Blick auf die Dinge - ohne Mitleid - , die Schärfe der Sprache, der Einsatz von sprachlichen Zitaten aus der Alltagswelt um zu enthüllen, sowie der böse Blick des Satirikers, der wie ein Wissenschaftler die Umgebung beobachtet.

Durch die Überhöhung, die Künstlichkeit und die ironischen Kälte gegenüber den menschlichen Unzulänglichkeiten und den Banalitäten des Alltags, entsteht gewissermaßen wieder ein "authentischer" Ausdruck. Diese Stereotypen oder Karikaturen von Personen - durch die Groteske aufgelöst und verzerrt - bewegen sich in einer gesellschaftlichen Satire oder auch einer grotesken Slapstickkomödie zwischen Traum und Wirklichkeit. Da Musiktheater nun wirklich nicht natürlich ist, sind mir Elfriede Jelineks Kunstgriffe und ihre Arbeit an der Sprache sehr nahe, und so versuche ich auch mit verstärkter Künstlichkeit und Überhöhung der Klangmittel zu arbeiten. Aber gleichzeitig ist es mir wichtig, daß auch das Scheitern bzw. mein eigenes Scheitern, miteingeschrieben ist, welches zeigt, daß die Lebensentwürfe schon im Ansatz stecken bleiben.

In meiner Zusammenarbeit ist das Verhältnis Librettist-Komponist etwas verschwommen, da ich, nach Absprache mit Elfriede Jelinek auch des öfteren noch ins Original eingreifen durfte. So entsteht gewissermaßen das erste Stadium der Textauflösung. Mit dem Rasenmäher über den Text rasen. Die Aushöhlung der Vorgabe. Es bleibt ein Skelett über, in dem die Grundvoraussetzungen und Intentionen der Originalvorlage vorhanden sind und mir gleichzeitig einen Ausgangspunkt anbietet für einen noch nicht pre-definierten Raum und einer nicht absolut definierten Zeit. So kann ein sich ständig erneuerndes Spiel in Gang gesetzt werden, in dem die Grenzen zw. Sängern und Instrumentalisten, Ensemble und Tonband (bzw. Live-Elektronik), Raum und Nicht-Raum, Real und Irreal, Geräusch und Klang verwischen. Durch die Interaktion zwischen diesen Bereichen (wodurch Musiktheater ja erst entsteht) kann eine Tendenz aufgezeigt werden von konstantem Aufbau und Zerfall, Selbstbehauptung und Integration der einzelnen Teilbereiche - ein ständig changierendes Kompendium verschiedener Zustände und Zeiteinheiten zu einer neuen, anderen "Ganzheit". So glaube ich, kann auch der planmäßige Einsatz von Bühne (also Räumen), Tonband, Sängern, Instrumentalisten, Film bzw. Videogroßprojektionen, Ausstattung und Licht schon im Libretto beginnen. So geschehen im neuen Libretto von Elfriede Jelinek für ein gemeinsames Musiktheater-Projekt.

Bei diesen Textvorlagen kann man nicht einfach anfangen sie zu vertonen. In gewisser Hinsicht gehe ich mit den Texten folgendermaßen um:
a) vergessen b) sie als unüberwindbares Hindernis betrachten, an denen man sich ständig reibt c) sie als Anregung und Assoziationsmittel betrachten und d) als zweites Stadium der Textauflösung, sie an bestimmten Stellen zerstäuben, um diesen Texten aber in einer virtuellen Neuschaffung und musikalischen Überhöhung - also einer neuen Aura des Gesamten - die Vielfalt, Musikalität, Komplexität und Schärfe der Jelinekschen Sprache wiederzugeben. So treffen sich Text und Musik auf einer anderen Ebene wieder, durch strukturelle und assoziative Ähnlichkeiten. Also: Nur ja keine Verdopplung, sondern eher in Richtung - analog zum "cinéma discrepant" - eine "opera discrepante", in der man die Einheit von Text und Musik zugunsten einer diskrepanten Montage aufbricht.

Olga Neuwirth

Gedankenfetzen:

Theater-Musiktheater - : Spiegel des Zuschauers, der vor einem facettenreichen Bühnengeschehen sitzt und sich in allen Figuren, in allen Farben, in allen Zitaten auf irgendeine Weise wiederfinden kann.

Die Bühne stellt eine andere Zeit her als die, die der Zuschauer verrinnen spürt.

Sprachmittel-Klangmittel, mit denen man die KÄLTE schildert.

Theater = genau das Gegenteil von Wirklichkeit.

Mit der Vernunft allein kann man die Wirklichkeit nicht beschreiben.

Sänger versuchen immer das, was sie singen, nochmals mit dem Körper zu verdoppeln. Das macht die Figuren aber kleiner und nicht größer! Sie lösen sich im Gesang auf . . . Mozarts federnde Leichtigkeit, sowie arielhafte Spiritualität, überschäumendes Temperament und tiefgründiger Sarkasmus.

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