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»… ein fiktionaler Abenteuerroman durch vielfältige Raumklangwirkungen hindurch«: Olga Neuwirth im Gespräch mit Stefan Drees über ihre Komposition »Le Encantadas«

Beim ersten Blick auf deine neue Komposition »Le Encantadas« fallen mehrere Details auf: Erstens ist da der Titel, der – in italienischer Übersetzung – auf ein Werk von Herman Melville aus dem Jahr 1854 über das Galapagos-Archipel verweist, auf eine Inselgruppe also, die von den Spaniern ursprünglich »Las Encantadas« benannt wurde. Zweitens legen die räumliche Konzeption und der Bezug auf die Stadt Venedig eine Spur zu Luigi Nonos »Prometeo«. Von diesen beiden Beobachtungen aus ergibt sich mit Blick auf die formale Anlage drittens der Gedanke einer inselförmigen Anordnung von Abschnitten und des Reisens von Insel zu Insel, der nicht nur bei Nono und Melville zu finden ist, sondern auch in vielen deiner früheren Arbeiten eine wichtige Rolle gespielt hat. Lass uns diesen Bezügen ein wenig nachspüren.

Tatsächlich ist meine intensive Beschäftigung mit Melville wichtig, die aber in einer doppelten Ernüchterung geendet hat. Da war das unvollendete Projekt meines Melville-Films »Songs of the unleashed ocean«: Das Drehbuch habe ich zwar fertiggestellt und bin dafür zu all jenen Orten in den USA gereist, an denen sich Melville aufgehalten hat, doch konnte der Film aus finanziellen Gründen dann doch nicht realisiert werden, obgleich die beiden wunderbaren englisch-amerikanischen Hauptdarsteller bereits zugesagt hatten. Dann gab es meine Hommage an Herman Melville, »The Outcast – A musicstallation-theater with Video«, die zwar 2012 aufgeführt wurde, aber aus unterschiedlichen Gründen äußerst unbefriedigend gewesen ist und ihrer wahren Premiere noch harrt. Die maritimen Anspielungen in sakralen Räumen hatten es mir angetan, so z. B. die Ähnlichkeiten zwischen der schiffsförmigen Kanzel in der »Seamens’s Bethel« in New Bedford und lokalen venezianischen Eigenheiten in Kirchenräumen wie etwa dem erhöhten Chor namens barco oder den hölzernen Decken (zur Verbesserung der Akustik), genannt a carena di mare (in Form eines Schiffkiels). Alles ausgelöst durch meine Langzeit-Liebe für Architektur und Städte am Meer sowie die Unbegreifbarkeit des Meeres an sich. Mich hat das Thema »architettura e musica à Venezia« umgetrieben und dass Jacopo Sansovino und Andrea Palladio viele musikalische Freunde hatten, mit denen sie akustische Probleme diskutierten, oder dass Leon Battista Alberti und Palladio auf Vitruvs Rat zurückgriffen, in ihren Kirchenbauten Gesimse bzw. Deckenleisten einzubauen, um die Akustik für Choraufführungen fasslicher zu machen. Aber im Besonderen bin ich dennoch bei Melville hängen geblieben, auch wegen seiner immer wieder auftauchenden Aufforderung zu Toleranz dem Anderen, anderen Kulturkreisen gegenüber.
Ein weiterer zentraler Aspekt für »Le Encantadas o le avventure nel mare delle meraviglie« ist meine weit zurückreichende Erfahrung mit der Stadt Venedig: Schon als Kind war ich sehr oft dort, und als Jugendliche bin ich immer wieder zur »Festa dell’Unità« auf den Campo del Ghetto Nuovo gereist. Dazu kamen die Beschäftigung mit der Musik Nonos, aber auch die Erfahrungen, die ich während jener vier Jahre in Venedig gesammelt habe, als ich eine Wohnung unmittelbar hinter dem Ghetto hatte. Als 16-Jährige hatte ich 1984 zudem das Glück, eine Aufführung von Nonos »Prometeo« in der Chiesa di San Lorenzo miterleben zu können. Zu diesem persönlichen und breit gefächerten Material kommt dann noch die Idee des Nomadierens, des Reisens hinzu, die ich musikalisch als Reisen, als Wandern durch verschiedene Klanglandschaften beschreiben würde: Man zieht an verschiedenartigen Klangbildern, Klangwelten und Klangfarben vorbei, die mit bestimmten Bedeutungen oder Erinnerungen aufgeladen sind. »Einsame Inseln« nicht als etwas geographisch Fixes, sondern vielmehr als imaginäre und mythologische Räume. All diese »Versuche mit Raumanordnungen« gehen aber schon zurück auf die Jahre 1992/93, also den Beginn der Arbeit an »Bählamms Fest«, sowie auf meine Beschäftigung mit Surround-Sound und Surround-Videos in »The Long Rain« (1999) und unmittelbar danach in »Lost Highway« (2002/03) und »… ce qui arrive …« (2004), wo es um den musikalisch-visuellen U-Topos geht. Hierzu passt auch ein Zitat aus Melvilles »The Encantadas«: »… For those same islands seeming now and than, are not firme land, nor any certein wonne, but stragling plots which to and fro do ronne in the wide waters; therefore are they hight the Wandering Islands …«

Die Idee der Klanginseln ist eigentlich auch durch Melville vorgegeben: In »The Encantadas« umkreist der Schriftsteller die Inselgruppe mit zehn literarischen Skizzen, in denen er Naturbeschreibung, Reisebericht, philosophische Betrachtung und Schilderungen geschichtlicher Ereignisse verknüpft, so dass daraus ein heterogenes Ganzes aus unterschiedlich proportionierten Teilen entsteht.

Genau diese Heterogenität ist das Spannende an Melville; deshalb wurde er ja zu Lebzeiten angefeindet. Er hat sich mit seiner Art des Schreibens einer einzigen Gattung entzogen. Daher konnte er in keine Schublade gesteckt werden und sorgte für Irritationen, was dazu führte, dass ihm Kollegen und Kritiker das Können absprachen. Dies trifft auch auf sein Buch »The Encantadas« zu: Neben einzelnen Schilderungen historischer Ereignisse, in denen sich Elemente eines sozialpolitischen Manifests erkennen lassen, stehen Ausführungen über die Beschaffenheit der »Encantadas«, der verzauberten Inseln, die sich mit deren Menschenfeindlichkeit, aber zugleich auch mit ihrer Schönheit befassen. So beschreibt Melville die wuchernde Natur, das Grün des Urwalds, dieses nicht Greifbare, während er gleich darauf auf die Unbewohnbarkeit, die trockene, abweisende Welt des Vulkangesteins Bezug nimmt. Der Beschaffenheit dieses Buches entspricht seit jeher meine Idee des Komponierens: mit heterogenem Material zu arbeiten und, wie auch in »Le Encantadas«, verschiedene Dauern für verschieden Klangprozesse zu wählen, denn die Mühe meiner Überlegungen galt stets neuen Formen. Bei mir gibt es fünf Inseln mit zwei Interludien sowie einem Prolog und einem Epilog. Für die Gestalt meiner Musik ist aber vor allem der Gedanke des ungewissen Durchfahrens eines Archipels wichtig: Es geht darum, die Wahrnehmung dessen zu erleben, was zusammengehören könnte und zugleich doch auch getrennt erscheint. Der Blick – in meinem Fall das Ohr – gleitet unbestimmt in die Ferne, über das Meer. Die Inseln eines Archipels liegen noch eben scharf umrissen vor einem, fast greifbar. Und nur wenig später sind sie mit einem Mal nur noch nebulöse Silhouetten, die mit jedem Millimeter, den man mit dem Boot daran vorbeifährt und eine weiß schäumende Kielspur hinterlässt, diffuser und diffuser werden. Dieser Eindruck spielte für mich eine wichtige Rolle. Darüber hinaus ist die Formulierung »über das Meer« natürlich seit einiger Zeit auch in Europa zu einer schrecklichen Metapher für Flüchtlinge geworden …

Inwieweit dient dir Nonos »Prometeo« mit seiner inselartigen Struktur als Orientierungspunkt?

Als Komponistin heute habe ich nur die Möglichkeit, durch die Historie durchzugehen, um mich von ihr zu lösen und bei mir selbst anzukommen. Es geht also darum, dass ich mich anregen lasse und diese Anregungen weiterdenke. Nonos »Prometeo« ist eine solche Anregung, und ich habe versucht sie für mich anders weiterzudenken. Ich mache einen anderen Schritt als Nono, denn ich siedele die Aufführung meines Stücks nicht im Innern einer physisch präsenten Kirche an, sondern ich greife auf eine reproduzierte, simulierte, »falsche« Chiesa di San Lorenzo zurück. Erstaunlich, warum das noch niemand vor mir realisiert hat! Als ich das Projekt vor Jahren entwickelt hatte, nachdem mein Projekt mit dem Architekten Gregg Lynn 2007 – basierend auf dem Potential seiner Idee einer »time-based animation techniques« – doch nicht realisiert wurde, war mein Ausgangspunkt für »Le Encantadas« erneut die Frage nach Raum und Akustik, da ich immer wieder mit akustischen Problemen in Aufführungsräumen zu kämpfen habe: Wie macht man Raum hörbar? Warum fange ich nicht die Akustik einer Kirche ein, um sie in einen anderen Raum zu implantieren und dort verändern zu können? Es geht also darum, mir meine eigene Akustik für die jeweiligen musikalischen Prozesse zu »bauen«. Eine »liquid architecture«, je nachdem wie ich Architektur und Akustik brauche. Als ich eines Tages auf einem meiner vielen Spaziergänge nach dem Komponieren plötzlich sah, dass die Kirche offen stand und ich eintreten durfte, war das die Initalzündung, um ein Projekt zu entwickeln. Diese besondere, äußert hohe Kirche, mit dem Altar in der Mitte des Raumes, ist leider dem Verfall preisgegeben und nun wieder unzugänglich, sie forderte mich sozusagen durch ihre (akustische) Schönheit heraus, ihre besondere Akustik zu konservieren. Also im Grunde so etwas wie akustische Denkmalpflege!

Wie bist du dabei vorgegangen?

Zunächst musste ich Überzeugungsarbeit leisten. Einige Jahre lang. Als ich dann schließlich Armin Köhler in einer Transitzone des Berliner Flughafens davon überzeugen konnte – denn ohne ihn gäbe es dieses Projekt nicht –, bin ich auf Markus Noisternig zugegangen, den ich seit Jahren kenne und mit dem ich seit »Bählamms Fest« an Surround-Klang-Projektionen arbeite. Er ist an der akustischen Forschungsabteilung des IRCAM tätig, und ich habe ihn gefragt, ob er sich vorstellen könnte, mit mir gemeinsam auf eine Forschungsreise zu gehen, um dabei die Akustik der Kirche San Lorenzo »einzufangen«, um sie später in einem beliebigen Konzertsaal zu rekonstruieren. Dazu haben wir dann ein Impulse-Response-System benutzt. Um es einfach zu erklären: Man sendet ein Signal (von verschiedenen Positionen aus) in den Raum und misst für einige Zeit gleichzeitig die Antwort des Systems. Und man zeichnet sie auf.

Wie arbeitest du in »Le Encantadas« mit diesen Elementen?

Ich wollte zunächst Raum und Form plastisch, flexibel und in variablen Einheiten bzw. Gebilden erscheinen lassen. Zunächst geht es darum, die Eigenakustik des Konzertraumes so weit wie möglich zu neutralisieren, um dann die simulierte Kirchenakustik hineinzusetzen. Dann versuche ich die »eingefangene Akustik« als musikalisches Gestaltungsmittel einzusetzen. Wenn es für meine Musik passt, lasse ich beispielsweise den Nachhall von San Lorenzo verkleinern, was den Eindruck eines geschrumpften Raumes erzeugt, denn eine »decay time« von weniger als zwei Sekunden ergibt z. B. einen klaren akustischen Raum, geeignet für schnelle Passagen. Ich habe demnach die Möglichkeit, an von mir gewählten bestimmten Stellen die Akustik beinahe auszublenden, den Raum klein und eng werden zu lassen und anschließend wieder aufzublasen. Es lassen sich aber auch einzelne Bestandteile der Kirchenakustik isolieren: So kann ich z. B. musikalische Ereignisse im vorderen Teil des Live-Aufführungsraumes quasi im »zweiten Bereich« des San Lorenzo-Raumes erklingen lassen – die Kirche ist ja in zwei Räume geteilt, die akustisch anders klingen –, während ein anderes musikalisches Ereignis zur selben Zeit im »ersten Bereich« – im größeren Eingangsbereich – erklingt. An manchen Stellen hört man den akustischen Raum der Kirche allein. Und manchmal reduziere ich die Partitur auf wenige Instrumente, um bestimmte Punkte der Kirche hörbar zu machen oder um auch einmal die Aufmerksamkeit auf einen künstlichen Hall, also nicht den der Chiesa di San Lorenzo, zu lenken. Ich habe unterschiedliche Raumakustiken also immer mitkomponiert und dadurch ein Spiel mit realen und fiktiven Räumlichkeiten geschaffen. Zur Abstrahlung verwenden wir eine 3D-Surround-Umgebung (Ambisonic), wie man sie heute ähnlich aus Kinos und Planetarien kennt, in denen sie »Dome projections« genannt werden. Skurril, dass ich meine großen 3D-Räume in »The Long Rain« sehr ähnlich nannte, nämlich »Sundomes«. Dieses Ambisonic-System ist um sechs unterschiedlich besetzte und gegeneinander verstimmte, im Raum angeordnete Ensemblegruppen herumgelegt, die zwei ineinander geschobene dreieckige Anordnungen bilden und damit im Grunde an den Spitzen eines Davidsterns positioniert sind.

Es ist sehr interessant, dass du hier field recordings benutzt und damit an dem anknüpfst, was du bereits in den 1990er Jahren, eigentlich seit deinen frühesten Werken immer schon gemacht hast.

Genau, aber diesmal war es für mich spannend, wie sich die Verwendung solcher Klänge veränderte. Beispielsweise durfte ich 2002 für meine Komposition »torsion : transparent variation« im Jüdischen Museum Berlin, vor Installation der heutigen Sammlung, Aufnahmen in den »Voids« von Daniel Libeskind machen, und in denen hört man verzerrt die Außengeräusche von vorbeifahrenden Autos. Diese Aufnahmen werden völlig unverändert in den musikalischen Zusammenhang eingeblendet, zerschneiden ihn gewissermaßen. Diesmal war es mir wichtig, field recordings aus der Lagune von Venedig und von der Stadt Venedig, von denen ich seit 1997 unzählige gemacht habe, als »Hörspiel-Teile« zu benutzen. Denn es geht bei »Le Encantadas« immer wieder um das Durchdringen von Innen- und Außenräumen. Die Chiesa di San Lorenzo ist zwar ein Innenraum, doch wird er auch durch Klänge, die von außen eindringen, durchlässig gemacht. Da die Wände schon porös und zudem Fensterteile kaputt sind, hört man im Innern immer irgendwie auch das Draußen. Folglich verwende ich auch unterschiedliche akustische Ereignisse, die das Umfeld, den Außenraum der Stadt einfangen, beispielsweise Klänge von Motorbooten, Stimmen und diversen Glocken, die sich je nach Standort des Hörers verändern. Für die Aufnahmen in der Lagune haben wir ein »all around«-Soundfield-Mikrophon benutzt, so dass man hören kann, wie z. B. die Glockenklänge aus verschiedenen Richtungen kommen und wie sich die Klangumgebung in einer 3D-Abbildung wandelt, wenn man sich von der Quelle wegbewegt, wie Klänge sich allmählich verlieren, während zugleich neue akustische Signaturen in den Vordergrund treten. Solche Wahrnehmungsphänomene haben mich dann auch beim Komponieren beschäftigt: Die field recordings stehen an bestimmten Stellen nicht nur isoliert da, sondern es gibt auch Passagen, an denen ich die aufgezeichneten Kirchenglocken analysiert und für Ensemble transkribiert habe. Dort müssen die Musiker unisono zu den Aufnahmen die Obertonspektren der Glocken vortragen. Das wird über Klicktrack koordiniert, denn die besondere Klangfärbung entsteht nur, wenn es tatsächlich genau zusammen ist. Da ist dann der große Kirchenraum von San Lorenzo weggeschaltet. Also: urbane bzw. architektonische Form in unmittelbarer Abhängigkeit zum musikalischen Material.

Wie geht man als Komponistin damit um, dass man eine Zeitspanne von 70 Minuten ausfüllen möchte? Das ist ja …

… wahnsinnig lang, genau. Ich habe mir dazu eine zeitliche Kielspur geplant. Und zwar so, wie ich instinktiv glaubte, dass es für mich richtig ist. Deshalb sind es ja auch verschiedene Inseln, davor ein »Prologo«, in dem es mit einer der field recordings der Lagune beginnt, um dann in die Ensemblemusik einzuführen, und es heben dann eben die ozeanischen Inseln unterseeischer Eruptionen und Bewegung aus den Tiefen an die Oberfläche. Ereignisse tauchen in verschiedenen Dauern langsam empor, verschwinden und kehren wieder, und man hat gar keine Zeit, die Klanginseln fürs eigene Ohr zu annektieren. Daneben ist natürlich auch das zu berücksichtigen, was einen selbst am meisten interessiert. Das ist der persönliche Weg, den ich beim Komponieren durch diese Inselwelt gewählt habe. Damit versetze ich das Publikum in eine fiktionale Raum-Zeit-Reise: Als Zuhörer wird man 70 Minuten lang durch ein Labyrinth von realen und fiktiven Außenräumen, Innenräumen, verschiedenen (Klang-)Inselwelten sowie akustischen Phänomenen und deren Bearbeitungen mitgenommen.

Damit sind wir wieder bei der Idee des Reisens, die für dich seit »Bählamms Fest« wichtig gewesen ist …

Dieser Gedanke ist geblieben, er ist bedeutend für mich, seit jeher. Zum Teil spielt vielleicht auch die »Prometeo«-Erfahrung von 1984 eine Rolle. Wie Herder schrieb: »Was gibt ein Schiff, daß zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphäre zu denken!« In vielen meiner Werke ist es immer schon um Raum gegangen, weshalb »Le Encantadas« eigentlich eine konsequente Fortführung früherer Arbeiten ist.

Und auch der Umgang mit den zugespielten Stimmen knüpft an vieles an, was du bereits früher gemacht hast.

Genau. Alle Stimmen, die vorkommen, sind entweder vorher aufgezeichnet oder künstlich generiert. Letzteres spielt gegen Ende des Stückes eine Rolle: Die Insel als Vorstellungswelt, wie in der fantastischer Literatur. Da gibt es einen »surrealen Moment«, wo alles künstlicher wird. Die »einsame Insel« liefert das Double aller Instrumente und Stimmen. Ein unbeständiges Double, vom Realen getrennt, da es nicht dessen Festigkeit erhält. Dort verwende ich beispielsweise Statements, die ich unter Jugendlichen in New York gesammelt habe – was für sie wichtig ist, was sie beschäftigt –, und die über die Computerstimme meines Apple-Rechners abgespielt wurden, als eine persönliche Erinnerung an den 1978 herausgekommenen digitalen Signalprozessor »Speak & Spell«, den ich damals geschenkt bekam. Um danach noch weiter zu gehen, verwende ich eine Sängerin, die sich nur als »dreidimensionale Projektion« herausstellt – wie in Adolfo Bioy Casares’ Roman »Morels Erfindung« mit seinen frühen Motiven des Virtuellen, in der das Inselmotiv als Metapher des auf sich selbst Zurückgeworfen-Seins, als Bild für das Bedrohtsein von Außen, dient. Aber auch als Raum für das Enigmatische. Dafür schrieb ich einen Song für die digitale Vocaloid-Stimme von Hatsune Miku – der japanische Hersteller nennt sie »an android diva in the near-future world where songs are lost« –, die ich auch in anderen Stücken einbauen werde. Denn diese voice synthesis-Programme zur Erzeugung digitaler Stimmen beschäftigten mich schon seit 1992, während des Arbeitsbeginns an »Bählamms Fest«. Heute, nach über 20 Jahren, ist die Programmierarbeit viel weiter fortgeschritten und die Resultate sind viel besser. Ich nutze das ganze Spektrum von unveränderten menschlichen Stimmen, über unterschiedliche Grade der Verwandlung bis hin zu jener Art von künstlichen Stimme, deren Klang ich früher gern als »androgyn« bezeichnet habe. Aufgrund dieser Stimmenvielfalt ist »Le Encantadas« für mich auch eine Art Musiktheater.

Ein imaginäres Hörtheater vielleicht.

Ja. Es ist in übertragenem Sinne ein fiktionaler Abenteuerroman durch vielfältige Raumklangwirkungen hindurch.

(Das Gespräch wurde am 25. August 2015 in Berlin aufgezeichnet.)


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