A Mensch
Nachruf auf Pierre Boulez
In: DIE ZEIT
von Olga Neuwirth
Als 16-Jährige in der österreichischen Provinz war ich von Boulez’ musikalischer Persönlichkeit und seiner Art, Musik auf ganz andere Weise zu betrachten, völlig fasziniert - und das ist bis heute so. Werke der Vergangenheit mit dem analytischen Blick des Komponisten neu zu denken, um den Stücken damit einen revolutionären neuen Antrieb zu geben: aus der Schnittstelle der Extreme einer antiromantischen Reaktion und Verweigerung, Kraft zu entwickeln, um Verhältnisse zu verändern, gleichzeitig zu begeistern, den erstarrten Elementen im Musikleben kritisch gegenüber zu stehen, weil es wahrlich viel zu kritisieren gab und weiterhin gibt - nun ohne diese Integrationsfigur; seine äußerste Überzeugung in der Jetztzeit zu stehen, zu denken und zu komponieren, sowie Zynismen und Gleichgültigkeit zu bekämpfen - all dies hat mich zu tiefst angesprochen und inspiriert. Ich war natürlich von seiner Musik fasziniert, besonders von „Répons“, dieser ergreifenden vielfältigen Raum-Klangwelt. Ich lief als Studentin immer wieder in die Universal Edition in Wien und lieh mir seine Partituren aus. Ich wollte sie studieren. Vor allem habe ich mich über eine Kopie von Boulez’ handschriftlicher Partitur von „Répons“ gefreut. Die Wege der Inspiration sind geheimnisvoll, aber mir schwebte in den frühen 1990er Jahren eine neue Ausdruckswelt vor für komplexe Stücke zwischen selbst auferlegten Regeln, Technologie und gefühlsbetonter Klangsinnlichkeit. Damals, 1992, interessierte ich mich deswegen besonders für die Interaktion von traditionellen Ensembles, Live-Elektronik und Architektur. Und ich wollte wissen, wie er, der Meister, das handhabte.
Im Dezember 1998 habe ich Pierre Boulez in Paris persönlich kennengelernt. Hier ein kurzer Ausschnitt aus meinem "Venezianischen Arbeitsjournal" über das erste Treffen im Musée d’Orsay, den Rest kann man im Buch selbst nachgelesen: „Bekomme sicherlich kein Wort raus, denn die Ehrfurcht vor diesem hervorragenden Dirigenten und gleichzeitigen Verkörperung des Olymps der „Zeitgenössischen Musik“ ist groß. Wir begrüßen einander; ich solle ihm in die Garderobe folgen, wo er mir sein Konzept für die »Boulez 2000«-Tour zu seinem 75.Geburtstag erklären möchte. Ich folge. [....] Ich soll ein neues Orchesterwerk für das »Österreicher-Programm« schreiben. Wie, ich soll zwischen die Meisterwerke von Bergs ‚Drei Orchesterstücke’ und Mahlers ‚Sechste Sinfonie’ gequetscht werden? [....]“
Zur nächsten Begegnung im Dezember 1999 in seinem Haus in Baden Baden holte er mich am Bahnhof persönlich ab, stand mit verschränkten Händen am Bahnsteig und wartete. Wir stiegen in sein Auto ein und er raste los. Ich habe wegen meiner Erfahrung eines schweren Autounfalls Angst vor dem Autofahren, wagte aber nichts zu sagen, weil ich merkte, dass er sich sichtlich wohl fühlte. Als mir Jahre später seine Schwester erzählte, welch riskante Autofahrten sie mit ihm erlebt hatte, drehte sich mir der Magen um. Seine große Neugierde faszinierte mich und auch dass ihm, Pierre Boulez, keine Krone vom Haupt fiel, wenn er etwas nicht wußte. Im Arbeitszimmer gingen wir schnell dazu über, dass ich ihm erklären sollte, wie in meinem Stück die verstimmten Zithern und die Hawaii-Gitarre, die ich als „Scharnier-Instrumente“ gewählt hatte, von zwei Schlagwerkern gespielt werden sollten. Denn er hatte von mir verlangt, dass ich wegen der Überbeanspruchung der Bläser bei Mahler kein Blech verwenden darf. Ich erklärte ihm, dass ich ohne Blech unbedingt etwas „anderes Metallisches“ hören möchte, daher die Wahl dieser drei Instrumente. Er musste lachen und redete mir die Idee nicht aus. Ich glaube, es gefiel ihm, dass ich mich nicht sofort seinen aufoktroyierten Vorgaben angepasst hatte, mich nicht beirren ließ, um meine Klangvision weiter zu verfolgen. Denn er mochte, wie ich auch, keine unterwürfigen, epigonalen Haltungen. Diese drei Instrumente aber hätten dann beinahe die Uraufführung im Januar 2000 zum Platzen gebracht, denn die Schlagzeuger wollten keine „Streichinstrumente“ angreifen: Erst als Boulez nach tagelangem Hin und Her eine Lösung gefunden hatte, konnte weiter geprobt werden.
Sobald wir mit der Durchsicht meiner Partitur fertig waren, redeten wir heiter über Brevets d’invention toute à fait insolites, ein Buch, das ich bis heute besonders mag, und das ich, weil ich meine Umgebung immer schnell scanne, in seiner Bibliothek entdeckt hatte. Mit diesem ironischen, leichten Gespräch über utopische, auch sinnlose Erfindungen war für mich der Bann gebrochen. Mit Pierre Boulez sprach man nicht nur über Musik. Man sprach auch über Literatur, Kunst, Theater und gesellschaftliche Zustände. Wenn man mit ihm über etwas redete, betrat man eine andere Welt. Unsere letzten beiden Gespräche, in New York und später noch einmal in Paris, drehten sich nur kurz um Musik, vielmehr ausführlich über Herman Melville. Da ich damals in New York an The Outcast – A Homage to Herman Melville arbeitete, was ihn sehr interessierte, war ich in das „Universum Melville“ vertieft. Boulez sagte mir, Melville sei einer seiner Lieblingsautoren und sein bevorzugtes Buch wäre Pierre: or, The Ambiguities. Ich kannte dieses besondere Buch, das mit seinen Sprachexperimenten zum Desaster für Melville wurde. Ich warf Boulez einen Blick zu und er wußte was ich meinte. Wir lächelten.
Ich mochte seine Art von Begeisterungsfähigkeit sehr. Ich konnte diesem klaren, brillanten Geist, der seine Ansichten auch revidieren konnte, weil er in dem Überdenken von Gesagtem und Getanem nichts Widersprüchliches sah, stundenlang zuhören. Wie viele Menschen erzählen heute tiefgründig und fein von Dingen, die ihr Inneres bewegen, oder vermitteln auf großzügige Art Wissen, ohne dabei ihr Ego ständig herauszuheben? Dies sollte für uns eine Lektion bleiben.
Auch seine Kompositionen revidierte er immer wieder. Man hört oft, das sei zu bedauern, weil es keine wirklich neuen Stücke gäbe. Ich finde darin nichts Bedauernswertes. Es gehörte zu seinem Denken und zum Prozess des Komponierens, und steht auch gegen den aktuellen Wahn, stets ein neues, fertiges Produkt liefern zu müssen, dass natürlich obendrein immer ein Meisterwerk sein muss. Vielleicht war ihm für sein Komponieren Zenon’s „Paradoxie der Bewegung“ nahe. Ist doch der Begriff der Bewegung erst mit der Zeitvorstellung zugleich möglich, denn nur durch die Paradoxien der Bewegung ergeben sich Konsequenzen für die Struktur von Raum und Zeit. Darüber hätte ich mich mit ihm noch gerne unterhalten.
Eine kleine Slapstickszene, die für das Publikum im Saal nicht sichtbar war, müssen wir beide am 4.2.2000 abgegeben haben, als ich mich nach der Aufführung meines Stückes mit einer schwarzen Trauerschleife verbeugte. Es war der Tag der Angelobung der neuen rechten Regierungskoalition in Österreich und ich hatte am Vortag vor der Wiener Staatsoper eine kleine Rede gehalten. Ich hatte ein kurzes Statement vorbereitet, das ich in den Saal hineinsprechen wollte. Er sagte, nein, ich sollte das nicht tun, es wäre dem Orchester gegenüber unfair. Wir mussten uns verbeugen und ich kämpfte auf der Bühne mit mir, sagen oder nicht. Kaum waren wir von der Bühne, ging das heftige Hin und Her zwischen uns weiter, wurde aber unterbrochen, da wir wieder auf die Bühne mussten. Das wiederholte sich mehrere Male, sodass ich schließlich lächelnd aufgab. Er schützte mich aber dann sofort, als hinter der Bühne aggressive Konzertgeher, die verstanden hatten warum ich die Schleife trug, auf mich los gingen. Er nahm mich geistesgegenwärtig an der Hand und zog mich in sein Zimmer. Dort war Ruhe. Er hat mir oft den Rücken gestärkt und wenn notwendig stand er immer hinter mir, ohne Konditionen.
Und auf der Bühne verhielt es sich so: mir ist es äußerst unangenehm beim Applaus auf der Bühne zu stehen. Wie aber bändigt man eine ängstliche Zweiflerin? Er hielt mich fest an der Hand, sodass ich nicht entkommen konnte oder stellte mich auf das Dirigentenpodest, sodass ich "eingezäunt" war. Viele andere Dirigenten und Musiker haben mich für meine „Verbeugungsart“ gerügt, mir lange Moralpredigten gehalten, einer hat mich sogar "in die Ecke" gestellt und gemeint, ich würde mir so meinen weiteren Weg vermiesen. Er nicht, er machte es unauffällig, mit Güte und Humor. Er hatte es nicht notwendig, mich zu belehren.
Das Beeindruckende war seine Klarheit, Ruhe, Geduld, Warmherzigkeit, Verbindlichkeit und "gesunde Vernunft". Aber es war bei ihm eben nicht nur Vernunft, die in den meisten die Welt austrocknet. Das große Ziel der Rationalisierung ist, die Differenz durch induktive Generalisierung zu eliminieren. Es ist klar, dass wissenschaftliche Diskurse einer inneren, algebraischen Logik folgen, in der Zeichen unzweideutig für Begriffe stehen. Er aber wusste, dass der wache Realist und Wissenschaftler auch Träumer sein muss. Er arbeitete zwar ganz zielbewusst an einer " Trockenlegung" der Kultur-Sümpfe, aber – wie man besonders an "Répons" mit all seiner widerspenstigen Topographie und von Strudeln durchsetzten Meeren hören und in der Partitur auch sehen kann – an keiner "terra firma" der reinen Rationalisierung.
Auch wenn es bei seinem dezidierten Denken nicht sogleich sichtbar war, Abweichungen und Turbulenzen hat er nicht beseitigt. Aus meiner Sicht gibt es in seiner Musik trotz rational genauestens durchdachtem Material ein universelles Fließen und ein Wissen darum, dass man die Quellen der Tradition nicht einfach trockenlegen kann. Dass sich Musik und Schreiben nicht auf ein Instrument rationaler Kommunikation reduzieren lassen. Er eliminierte in seinem Komponieren nie die poetische Dimension von Musik und Sprache, die es erlaubt, von einer Idee zur anderen zu strömen. Mit seiner aus vielen gefährlichen und unvorhersehbaren Mikropassagen zusammengesetzten Poesie des Flüssigen, evozierte er eine Art von Stabilität. Es gab für ihn keinen linearen Zeitsinn, sondern eher ein "Immer-Bereit und Immer-Noch-Nicht", denn über allem steht ohnehin die kalte Hand der Zeit, die, wie ein Wunder, in seinen Kompositionen vorübergehend schmilzt.
Diese ständige bewusste Gratwanderung zwischen Wachen und Träumen fand ich außergewöhnlich. Und ich werde ihm für immer dankbar sein, dass er 2006 meiner Bitte um seinen Dirigenten-Schutz gegenüber den Wiener Philharmonikern wirklich folgte, nachdem ich einen Orchesterwerkauftrag als „Gutmachung“ für eine davor erfolgte unschöne Absage für ein Musiktheater bekam. Für mich bleibt er eine vorbildliche Autorität, eine natürliche Autorität ohne Allüren und Arroganz und mit feiner Ironie. A Mensch. Mit einer stetigen Ahnung von möglicher Freiheit.
Ich bin sehr dankbar, mit ihm Zeit verbracht haben zu dürfen. Sein eigenständiger Geist möge in uns weiterleben!
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Nachruf auf Pierre Boulez
In: DIE ZEIT
von Olga Neuwirth
Als 16-Jährige in der österreichischen Provinz war ich von Boulez’ musikalischer Persönlichkeit und seiner Art, Musik auf ganz andere Weise zu betrachten, völlig fasziniert - und das ist bis heute so. Werke der Vergangenheit mit dem analytischen Blick des Komponisten neu zu denken, um den Stücken damit einen revolutionären neuen Antrieb zu geben: aus der Schnittstelle der Extreme einer antiromantischen Reaktion und Verweigerung, Kraft zu entwickeln, um Verhältnisse zu verändern, gleichzeitig zu begeistern, den erstarrten Elementen im Musikleben kritisch gegenüber zu stehen, weil es wahrlich viel zu kritisieren gab und weiterhin gibt - nun ohne diese Integrationsfigur; seine äußerste Überzeugung in der Jetztzeit zu stehen, zu denken und zu komponieren, sowie Zynismen und Gleichgültigkeit zu bekämpfen - all dies hat mich zu tiefst angesprochen und inspiriert. Ich war natürlich von seiner Musik fasziniert, besonders von „Répons“, dieser ergreifenden vielfältigen Raum-Klangwelt. Ich lief als Studentin immer wieder in die Universal Edition in Wien und lieh mir seine Partituren aus. Ich wollte sie studieren. Vor allem habe ich mich über eine Kopie von Boulez’ handschriftlicher Partitur von „Répons“ gefreut. Die Wege der Inspiration sind geheimnisvoll, aber mir schwebte in den frühen 1990er Jahren eine neue Ausdruckswelt vor für komplexe Stücke zwischen selbst auferlegten Regeln, Technologie und gefühlsbetonter Klangsinnlichkeit. Damals, 1992, interessierte ich mich deswegen besonders für die Interaktion von traditionellen Ensembles, Live-Elektronik und Architektur. Und ich wollte wissen, wie er, der Meister, das handhabte.
Im Dezember 1998 habe ich Pierre Boulez in Paris persönlich kennengelernt. Hier ein kurzer Ausschnitt aus meinem "Venezianischen Arbeitsjournal" über das erste Treffen im Musée d’Orsay, den Rest kann man im Buch selbst nachgelesen: „Bekomme sicherlich kein Wort raus, denn die Ehrfurcht vor diesem hervorragenden Dirigenten und gleichzeitigen Verkörperung des Olymps der „Zeitgenössischen Musik“ ist groß. Wir begrüßen einander; ich solle ihm in die Garderobe folgen, wo er mir sein Konzept für die »Boulez 2000«-Tour zu seinem 75.Geburtstag erklären möchte. Ich folge. [....] Ich soll ein neues Orchesterwerk für das »Österreicher-Programm« schreiben. Wie, ich soll zwischen die Meisterwerke von Bergs ‚Drei Orchesterstücke’ und Mahlers ‚Sechste Sinfonie’ gequetscht werden? [....]“
Zur nächsten Begegnung im Dezember 1999 in seinem Haus in Baden Baden holte er mich am Bahnhof persönlich ab, stand mit verschränkten Händen am Bahnsteig und wartete. Wir stiegen in sein Auto ein und er raste los. Ich habe wegen meiner Erfahrung eines schweren Autounfalls Angst vor dem Autofahren, wagte aber nichts zu sagen, weil ich merkte, dass er sich sichtlich wohl fühlte. Als mir Jahre später seine Schwester erzählte, welch riskante Autofahrten sie mit ihm erlebt hatte, drehte sich mir der Magen um. Seine große Neugierde faszinierte mich und auch dass ihm, Pierre Boulez, keine Krone vom Haupt fiel, wenn er etwas nicht wußte. Im Arbeitszimmer gingen wir schnell dazu über, dass ich ihm erklären sollte, wie in meinem Stück die verstimmten Zithern und die Hawaii-Gitarre, die ich als „Scharnier-Instrumente“ gewählt hatte, von zwei Schlagwerkern gespielt werden sollten. Denn er hatte von mir verlangt, dass ich wegen der Überbeanspruchung der Bläser bei Mahler kein Blech verwenden darf. Ich erklärte ihm, dass ich ohne Blech unbedingt etwas „anderes Metallisches“ hören möchte, daher die Wahl dieser drei Instrumente. Er musste lachen und redete mir die Idee nicht aus. Ich glaube, es gefiel ihm, dass ich mich nicht sofort seinen aufoktroyierten Vorgaben angepasst hatte, mich nicht beirren ließ, um meine Klangvision weiter zu verfolgen. Denn er mochte, wie ich auch, keine unterwürfigen, epigonalen Haltungen. Diese drei Instrumente aber hätten dann beinahe die Uraufführung im Januar 2000 zum Platzen gebracht, denn die Schlagzeuger wollten keine „Streichinstrumente“ angreifen: Erst als Boulez nach tagelangem Hin und Her eine Lösung gefunden hatte, konnte weiter geprobt werden.
Sobald wir mit der Durchsicht meiner Partitur fertig waren, redeten wir heiter über Brevets d’invention toute à fait insolites, ein Buch, das ich bis heute besonders mag, und das ich, weil ich meine Umgebung immer schnell scanne, in seiner Bibliothek entdeckt hatte. Mit diesem ironischen, leichten Gespräch über utopische, auch sinnlose Erfindungen war für mich der Bann gebrochen. Mit Pierre Boulez sprach man nicht nur über Musik. Man sprach auch über Literatur, Kunst, Theater und gesellschaftliche Zustände. Wenn man mit ihm über etwas redete, betrat man eine andere Welt. Unsere letzten beiden Gespräche, in New York und später noch einmal in Paris, drehten sich nur kurz um Musik, vielmehr ausführlich über Herman Melville. Da ich damals in New York an The Outcast – A Homage to Herman Melville arbeitete, was ihn sehr interessierte, war ich in das „Universum Melville“ vertieft. Boulez sagte mir, Melville sei einer seiner Lieblingsautoren und sein bevorzugtes Buch wäre Pierre: or, The Ambiguities. Ich kannte dieses besondere Buch, das mit seinen Sprachexperimenten zum Desaster für Melville wurde. Ich warf Boulez einen Blick zu und er wußte was ich meinte. Wir lächelten.
Ich mochte seine Art von Begeisterungsfähigkeit sehr. Ich konnte diesem klaren, brillanten Geist, der seine Ansichten auch revidieren konnte, weil er in dem Überdenken von Gesagtem und Getanem nichts Widersprüchliches sah, stundenlang zuhören. Wie viele Menschen erzählen heute tiefgründig und fein von Dingen, die ihr Inneres bewegen, oder vermitteln auf großzügige Art Wissen, ohne dabei ihr Ego ständig herauszuheben? Dies sollte für uns eine Lektion bleiben.
Auch seine Kompositionen revidierte er immer wieder. Man hört oft, das sei zu bedauern, weil es keine wirklich neuen Stücke gäbe. Ich finde darin nichts Bedauernswertes. Es gehörte zu seinem Denken und zum Prozess des Komponierens, und steht auch gegen den aktuellen Wahn, stets ein neues, fertiges Produkt liefern zu müssen, dass natürlich obendrein immer ein Meisterwerk sein muss. Vielleicht war ihm für sein Komponieren Zenon’s „Paradoxie der Bewegung“ nahe. Ist doch der Begriff der Bewegung erst mit der Zeitvorstellung zugleich möglich, denn nur durch die Paradoxien der Bewegung ergeben sich Konsequenzen für die Struktur von Raum und Zeit. Darüber hätte ich mich mit ihm noch gerne unterhalten.
Eine kleine Slapstickszene, die für das Publikum im Saal nicht sichtbar war, müssen wir beide am 4.2.2000 abgegeben haben, als ich mich nach der Aufführung meines Stückes mit einer schwarzen Trauerschleife verbeugte. Es war der Tag der Angelobung der neuen rechten Regierungskoalition in Österreich und ich hatte am Vortag vor der Wiener Staatsoper eine kleine Rede gehalten. Ich hatte ein kurzes Statement vorbereitet, das ich in den Saal hineinsprechen wollte. Er sagte, nein, ich sollte das nicht tun, es wäre dem Orchester gegenüber unfair. Wir mussten uns verbeugen und ich kämpfte auf der Bühne mit mir, sagen oder nicht. Kaum waren wir von der Bühne, ging das heftige Hin und Her zwischen uns weiter, wurde aber unterbrochen, da wir wieder auf die Bühne mussten. Das wiederholte sich mehrere Male, sodass ich schließlich lächelnd aufgab. Er schützte mich aber dann sofort, als hinter der Bühne aggressive Konzertgeher, die verstanden hatten warum ich die Schleife trug, auf mich los gingen. Er nahm mich geistesgegenwärtig an der Hand und zog mich in sein Zimmer. Dort war Ruhe. Er hat mir oft den Rücken gestärkt und wenn notwendig stand er immer hinter mir, ohne Konditionen.
Und auf der Bühne verhielt es sich so: mir ist es äußerst unangenehm beim Applaus auf der Bühne zu stehen. Wie aber bändigt man eine ängstliche Zweiflerin? Er hielt mich fest an der Hand, sodass ich nicht entkommen konnte oder stellte mich auf das Dirigentenpodest, sodass ich "eingezäunt" war. Viele andere Dirigenten und Musiker haben mich für meine „Verbeugungsart“ gerügt, mir lange Moralpredigten gehalten, einer hat mich sogar "in die Ecke" gestellt und gemeint, ich würde mir so meinen weiteren Weg vermiesen. Er nicht, er machte es unauffällig, mit Güte und Humor. Er hatte es nicht notwendig, mich zu belehren.
Das Beeindruckende war seine Klarheit, Ruhe, Geduld, Warmherzigkeit, Verbindlichkeit und "gesunde Vernunft". Aber es war bei ihm eben nicht nur Vernunft, die in den meisten die Welt austrocknet. Das große Ziel der Rationalisierung ist, die Differenz durch induktive Generalisierung zu eliminieren. Es ist klar, dass wissenschaftliche Diskurse einer inneren, algebraischen Logik folgen, in der Zeichen unzweideutig für Begriffe stehen. Er aber wusste, dass der wache Realist und Wissenschaftler auch Träumer sein muss. Er arbeitete zwar ganz zielbewusst an einer " Trockenlegung" der Kultur-Sümpfe, aber – wie man besonders an "Répons" mit all seiner widerspenstigen Topographie und von Strudeln durchsetzten Meeren hören und in der Partitur auch sehen kann – an keiner "terra firma" der reinen Rationalisierung.
Auch wenn es bei seinem dezidierten Denken nicht sogleich sichtbar war, Abweichungen und Turbulenzen hat er nicht beseitigt. Aus meiner Sicht gibt es in seiner Musik trotz rational genauestens durchdachtem Material ein universelles Fließen und ein Wissen darum, dass man die Quellen der Tradition nicht einfach trockenlegen kann. Dass sich Musik und Schreiben nicht auf ein Instrument rationaler Kommunikation reduzieren lassen. Er eliminierte in seinem Komponieren nie die poetische Dimension von Musik und Sprache, die es erlaubt, von einer Idee zur anderen zu strömen. Mit seiner aus vielen gefährlichen und unvorhersehbaren Mikropassagen zusammengesetzten Poesie des Flüssigen, evozierte er eine Art von Stabilität. Es gab für ihn keinen linearen Zeitsinn, sondern eher ein "Immer-Bereit und Immer-Noch-Nicht", denn über allem steht ohnehin die kalte Hand der Zeit, die, wie ein Wunder, in seinen Kompositionen vorübergehend schmilzt.
Diese ständige bewusste Gratwanderung zwischen Wachen und Träumen fand ich außergewöhnlich. Und ich werde ihm für immer dankbar sein, dass er 2006 meiner Bitte um seinen Dirigenten-Schutz gegenüber den Wiener Philharmonikern wirklich folgte, nachdem ich einen Orchesterwerkauftrag als „Gutmachung“ für eine davor erfolgte unschöne Absage für ein Musiktheater bekam. Für mich bleibt er eine vorbildliche Autorität, eine natürliche Autorität ohne Allüren und Arroganz und mit feiner Ironie. A Mensch. Mit einer stetigen Ahnung von möglicher Freiheit.
Ich bin sehr dankbar, mit ihm Zeit verbracht haben zu dürfen. Sein eigenständiger Geist möge in uns weiterleben!
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