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Olga Neuwirth: Gedanken zu Eleanor


Diese Komposition ist für mich ein Tribut an die vielen Menschen, die es wagten und wagen, Kritik auszusprechen, trotz aller sozialen und politischen Widerstände. In unserer ach so weltoffenen Zeit, wo schon leiser Widerspruch als Bedrohung angesehen wird, sitzt der Finger skandalös locker am Abzug.
Im Besonderen aber möge Eleanor - daher auch der weibliche Vorname im Titel des Stückes - ein Tribut an mutige Frauen sein. Der Lichtkegel ist gerichtet auf die vielen vergessenen afroamerikanischen Jazz-Musikerinnen „when men ruled the beat“.
Der Name Eleanor ist eine Referenz an Billie Holiday. Von Kindheit an war ihr Leben geprägt durch Verletzungen, die tiefe Wunden hinterließen. Wunden, mit denen schwer gelebt werden konnte. Ihr großes Talent, ihre Seelen- und Geistesgröße kämpfte stets gegen ein Gefühl von Leere. Nichts konnte diesen wahren Nihilismus schwächen.
Daher setzte ich anstelle der gepflegten Aura des klassischen Gesangs die Direktheit des Blues. Eleanor beharrt auf dem Unaufhebbaren des Schmerzes und auf ihrer Subjektivität. Sie ringt um Freiheit, geht einen schweren, aber selbst gewählten Weg. Trotz aller Verletzungen sucht sie selbstbewusst ihren eigenen Ausdruck, ihre eigene Identität. Musik und Text mögen einen treibenden, unnachgiebigen Sog erzeugen. Die musikalische Form soll eine Spontaneität vermitteln, die nicht, wie so oft bei der sogenannten „zeitgenössischen Klassik“, von strukturellen Limitationen blockiert wird. Eleanor beginnt zunächst wie ein Sichten alter Blues-Platten in der Tradition von Williams, Lambert und Hendricks: quasi-instrumentaler Jazzgesang. Transformiert mittels Schlagzeug, E-Piano und E-Gitarre ins Schein-Jetzt.
Wie schon in meinem Musiktheater American Lulu (2006-2012) hört man immer wieder eingespielte Fragmente von Martin Luther King-Reden und Gedichten der Schriftstellerin June Jordan, einer der bedeutendsten afroamerikanischen Lyrikerinnen der Gegenwart.

Innerhalb der Polizei ist der Hass auf Schwarze zunehmend verbreitet. Mehr Schutz für Afroamerikaner und andere Minderheiten vor ungerechtfertigter Polizeibrutalität muss erneut eingefordert werden. Traurig, wenn man bedenkt, dass Matin Luther King in seiner letzten Rede folgende Sätze äußerte: „But one hundred years later, the Negro still is not free. ... And so we've come here today to dramatize a shameful condition. ... Now is the time to make real the promises of democracy.“
50 Jahre später sind wir wieder, oder immer noch, in „beschämenden Zuständen“ - , auch in unseren demokratischen Ländern.
Ich wollte zwar mit American Lulu eine Art musikalischen Protest gegen Rassismus und Sexismus setzen, die ich während meiner vielen Aufenthalte in den USA seit den späten 1980er Jahren wieder aufflammen sah, aber ich hätte nicht gedacht, dass mein 2006 begonnenes Stück American Lulu (noch vor der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten) solch traurige Aktualität erhalten würde. Man bedenke allein, dass in den Vereinigten Staaten gegenwärtig mehr Afroamerikaner in Gefängnissen sitzen, als 1850 in Sklaverei gehalten wurden.

Eleanor war ein spontaner Ausdruck meiner hilflosen Empörung gegen rassistische Gewalt und gegen Gemetzel, wie in der Redaktion von Charlie Hebdo geschehen. Ich konnte und wollte nicht stumm bleiben. Nach dem Schock war der Moment gekommen, Mut zum Nachdenken zu finden. Das Stück war da schon beinahe fertig, aber ich wollte die Hitze des Augenblicks nicht abklingen lassen, denn sie führt nicht automatisch zu einer ausgewogeneren Wahrheit, wie uns immer wieder erklärt wird. Jetzt wollte ich reagieren und nicht später, wenn sich die Dinge wieder „gelegt“ haben.
Eleanor ist meine Art von Solidarität und mein künstlerischer Protest gegen geforderte Alltagskonformität sowie äußere und innere Repression.

(Olga Neuwirth, Januar 2015) - Programmheft der Salzburger Festspiele

Widmung:
Remembering the vision, courage and lasting endurance of Martin Luther King
and
in memoriam Elsa Cayat


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