Music and Peace
(für das Symposium:"music and peace")
© 1998
Ist Frieden "komponierbar"? Ich bin irritiert. Wie soll man einen utopischen Zustand komponieren können? Ich bin ja kein Heilsbringer...
Da ich einer Generation entstamme, in der die Hoffnung auf "give peace a chance" sowie die Konzepte eines friedlichen zwischenmenschlichen- und globalen Zusammenlebens nicht eingelöst wurden und das Erkämpfte und Erarbeitete der 60er und 70er Jahre eher wieder Stück für Stück rückgängig gemacht werden, Mega-Konzerne und Medien auch schon den Alltag des kleinen Mannes diktieren, Kriege und Flüchtlingsströme all überall zu beobachten sind, kann die Perspektivenlosigkeit unserer Generation am Ende des 20.Jahrhunderts nicht mit eindeutigen Aussagen beschrieben werden, sondern eher mit Schnappschüssen, nicht-linearen Abfolgen, nicht-aufklärerischen Schlußfolgerungen und nicht-kausalen Verknüpfungen. In einer Zeit, in der der Künstler - besonders aber der Komponist als eine verleugnete Existenz der Gesellschaft - als nutzlos und als Kuriosität wahrgenommen wird, kann die Kunst nicht mehr das moralische Problem des Helden, nicht mehr die Ideale, die er am Ende verkündet, darstellen, sondern nur die Maßnahme des Künstlers selbst sich auszudrücken - was aber nicht mit Verinnerlichungskitsch zu verwechseln ist. Diese Maßnahme ist die einzige Art und Weise von Reaktion, die dem Künstler in Momenten der Krise, des Chaos, der Verletzung von Menschenrechten und Zeiten der Unsicherheiten bleiben. Also: sein Konstruktives, seine Art in den Mitteln des Mitreißens, der Spannung, der bewußten Anwendung von Prinzipien des Ausdrucks und des Baus sowie die Bewußtmachung des schöpferischen Akts, ist des Künstlers einzige Möglichkeit des Reagierens auf seine Umwelt.
Wie kann ich in absolut nicht friedlichen Zeiten, in denen Nationalismus den Geist der Menschen bestimmt, und auch Menschenverachtendes schon im zwischenmenschlichen Bereich vorherrscht - wohl ein besonderes Zeichen, daß der Mensch unfähig ist friedlich nebeneinander zu existieren - Frieden komponieren? Musik ist für mich nicht automatisch das Synonym für Frieden. Wie absurd! Gerade Musik wurde all zu oft in all den Jahrhunderten manipuliert und als Propagandamittel eingesetzt. Wenn sogar in einem demokratischen Staat wie Österreich zur Angelobung des Präsidenten noch ein Marsch in Auftrag gegeben wird, dann bezweifle ich überhaupt, daß Musik mit Frieden zusammengebracht werden kann. Natürlich gibt es die Sehnsucht nach einer öffentlich wirkenden Vernunft, welche die Masken entlarvt, die dem Blick über den eigenen Horizont hinaus, die Angst und den Umgang mit Ungewohntem den Verdacht des Würdelosen nimmt. Ein Hörerlebnis bedeutet oft in eine unbekannte, quasi "schönere" Welt einzutauchen, vielleicht sogar der Lethargie für kurze Zeit zu entkommen. Nur: für mich kann der Sinn von Musik nicht darin liegen, Menschen mit naiven Verheißungen einzulullen, gefügig zu machen und dadurch eine bessere Realität vorspielen zu wollen. Wenn schon, möchte ich bewußt denkende Menschen als Zuhörer haben, die in der Musik und der Kunst allgemein die Funktion der Widerspiegelung des suchenden Menschen sehen. Der suchende Mensch, der entschlossen ist, das Gewohnte zu begreifen, das blind Herrschende zu überwinden und ins Unbekannte vorzustoßen und daher offener und toleranter seiner Umgebung gegenüber ist. In dem Sinn: erarbeiteter Frieden im sozialen Zusammenleben. Da ich keinen schönen Schein, keine Ziel-, keine Wunschvorstellung konkret in Musik umsetzen kann, kann ich persönlich nur das Nicht-ankommen-können, das Zögern vor dem Ziel, jene Angst vor dem endgültigen Anfang komponieren. Ich möchte niemanden eine Belehrung vorsetzen, nur Gedanken an das Schmerzliche und Zarte, das um die Welt liegt, das öffentlich Zweideutige und menschlich Vergebliche, das sie umgibt, durch Musik vermitteln. Denn Begriffe wie Freiheit und Würde wurden von der Gesellschaft als hohle Floskeln in Besitz genommen, deren Kriterium nicht Humanität als letzte Konsequenz ist, sondern eigene Selbstbespiegelung und Machtdemonstration.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf mein gerade entstehendes Musiktheater, welches so etwas werden möge wie Joseph Conrads Schreiben, das genauso gefährdet war wie seine Reisen zu See, eingehen. Ich hoffe, daß es beim Hörer eine Art "Fernweh" auslöst, und dadurch sein Bedürfnis nach aufmerksamen Beobachten und Betrachten seiner Umgebung und seiner Mitmenschen intensiviert und dadurch möglicherweise eine Veränderung in den Köpfen der Menschen hervorruft.
In all meinen permanenten Versuchen, mit abrupten Schnitten, Überlagerungen, rasch aufeinanderfolgenden Kontrasten, ins Nichts führenden Gesten und Montagen heterogener Materialien gegen die Absurditäten des Alltags anzulaufen, habe ich für dieses Musiktheaterprojekt auf ein surrealistisches Theaterstück von 1940 zurückgegriffen, in dem es um das zeitlose Thema der gesellschaftlichen Enge und Unterdrückung sowie um den erhofften Frieden durch Liebe - oder Flucht vor der Realität? - geht. Verstärkt wird diese Problematik, und das ist mir wichtig, durch den realen zeitlichen Hintergrund, in dem das Theaterstück entstanden ist.
In den Tagen, in denen Leonora Carrington "Das Fest der Lämmer" schrieb, ein wildes Epos über ein perverses Familiengeflecht, in dem Liebe mit Herrschsucht einhergeht, wurde nicht nur ihr Freund Max Ernst in ein französisches Konzentrationslager abgeführt, sondern in diesen Tagen erlebte Frankreich das größte Desaster seiner Geschichte: Hunderttausende Tote forderte der Krieg allein im Juni 1940, doppelt soviele Verwundete, die Eroberung von zwei Drittel seines Territoriums und die totale Demütigung des französischen Volkes. Die deutschen Truppen stießen bedrohlich rasch gegen Süden vor, die Gerüchte über das Näherrücken jagte über die Dörfer und Städte des Südens.
Meine Entscheidung für genau dieses surrealistische Theaterstück kommt aus einem Dürsten, wie es in einer Passage aus Maurice Nadeaus Buch "Geschichte des Surrealismus" beschrieben wird, dort bezogen auf André Bretons surrealistisches Manifest "Qu´ est-ce que le surréalisme?" von 1934: "Die surrealistische Gesinnung, d.h. die surrealistische Verhaltensweise kommt nämlich zu allen Zeiten vor, sofern man sie als die Bereitschaft auffaßt, das Wirkliche tiefer zu ergründen, ohne damit sogleich transzendieren zu wollen, und ´sich die sinnlich wahrnehmbare Welt immer deutlicher und zugleich immer leidenschaftlicher bewußt zu machen´ (André Breton), wonach ja alle jene Philosophien trachten, die sich nicht damit begnügen, die Welt nur sein zu lassen, wie sie ist; und wonach das Herz des Menschen dürstet, ohne je gestillt zu werden." Dies ist auch der Ansatzpunkt, der mich am Surrealismus reizt. Man kann, so denke ich, durch Überhöhung, Künstlichkeit und ironische Verfremdung und Distanz viel tiefer zur Wirklichkeit zurückkehren.
Zum Inhalt im Allgemeinen: Es handelt sich um eine sadistische Familiengeschichte in skurril-surrealen Momentaufnahmen. Das Haus einer eigenartigen Familie steht in einer vollkommen fernen, heideartigen Landschaft. Wir haben also schon hier die Entfremdung, die in dem Stück eine große Rolle spielt, nämlich die innere und äußere Kälte. In diesem "House of Usher", bei mir "House of Carnis", finden sadistische Eiszeitgelüste übersinnlicher Art statt. Dieses etwas heruntergekommene bürgerliche Haus in der Abgeschiedenheit ist Schutzraum und Tollhaus zugleich, hier ist man sich nah und grausig fremd - das ist so komisch wie tragisch, so zärtlich wie schräg und schrill. Hier rücken in bizarren Impressionen von Familienleben Menschen und Natur ins Zentrum: eine äußere Welt, die in Gewalt, Kälte und Terror erstickt und eine kleine, innereWelt einer bürgerlichen Familie, die genormt ist bis in den letzten Winkel, aber plötzlich ins Chaos kippt, wenn Paare und Generationen sich über ihren ungestillten Sehnsüchten und Wünschen brutal in die Haare geraten oder Alleingelassene in ihrer Auswegslosigkeit in rasende Autoagression verfallen.
Philip, der dem Ingwerwein ergebene, übelriechende, alternde, herrische Großbürger-Gatte mit Anklängen an Carringtons eigenen autoritären Vater, und Jeremy - halb Mensch, halb Wolf - die schneeweiße Lichtgestalt, das erhoffte Andere, dem die junge Theodora rettungslos verfallen ist, sind die beiden konkurrierenden Männerfiguren. Theodora versucht dem tristen Alltag, gekennzeichnet durch Philips sadistische Kälte und der alten Mrs.Carnis übertriebenen Liebe zu ihren beiden Söhnen, Philip und Jeremy, zu entkommen. Sie sucht das Andere, Freie, Offene, Friedliche, Neue in der Gestalt des Wolfsmenschen Jeremy, einer Art "arktischem Vampir". Das Kinderzimmer als Schutz- und Hoffnungsraum und als Raum zum Aufarbeiten der eigenen Geschichte, wird ihr bevorzugter Aufenthaltsraum. Jeremy, bei mir ein Countertenor, erscheint ihr das erste Mal in diesem Zimmer. Er liebt sie zärtlich, entschwindet aber immer wieder. Der utopische Moment der Gleichrangigkeit und Gleichgestelltheit der beiden Personen Theodora und Jeremy, wird stimmlich durch den sehr ähnlichen Stimmumfang der androgynen Stimmlage des Countertenors und Theodoras lyrischem Sopran, verdeutlicht. Philip und seine erste Frau Elizabeth verfolgen das Anderssein der beiden mit Haß. Es verwirrt sie die mögliche Veränderung. Philip ist eine Mischung aus ungeschicktem Trampeltier und pervertiertem Spießbürger, der um sich herum alles verwüstet. Elizabeth ist eine mondäne, rachsüchtige Frau. Ihrer beiden sinnloses, wütendes, automatenhaft entleertes Vorwärtsstürmen gegen die Hoffnung, gegen Jeremy und Theodora, kennt keinen Anfang und kein Ende: Was zurückbleibt, ist eine menschenleere Landschaft. Blut, Krieg und Zerstörung werden evoziert. Diese beiden Figuren sind das Symbol für mich, was in unserer Zeit vor sich geht: Egoismus, blinder Haß, Machtstreben, Menschenverachtung, Brutalität, Grausamkeit, agressive Geldgier, Geschichtslosigkeit und pure Zerstörungswut. Der wild gewordene (Klein-) Bürger als Protagonist des Bösen, der Nährboden für Intoleranz.
Jeremy wird schließlich ermordet. Das Andere, Unorthodoxe, Freie darf nicht sein. Jeremy erscheint Theodora noch ein letztes Mal als Gespenst - all seine Gesänge kommen nun nur mehr aus einem Ghettoblaster. Sie werden mit einem Sound-morphing-Programm verändert. Er verspricht ihr, wiederzukommen. Aber nur, wenn sie folgende Bedingungen erfüllt: Schön muß sie bleiben, schön, fröhlich und jung. Theodoras Ausbruchsversuche scheitern am irren, intoleranten Schönheitskult. Hier endet das Theaterstück von Leonora Carrington in der absoluten Tristesse. Die Librettistin Elfriede Jelinek und ich haben dieser letzten Szene aber noch ein Bild folgen lassen. Theodora ist sehr jung, und was wir nun am Ende aufzeigen wollten, ist analog zu dem, was Muriel Gardiner, eine amerikanische Psychoanalytikerin, in ihrem Artikel "The wolfman grows older" über Sigmund Freuds erste Fallstudie "The wolfman", geschrieben hat. Dieser Mann war in ganz frühen Jahren in Behandlung bei Freud, mußte dann aber nach Freuds Tod noch sein gesamtes langes Leben mit seiner Krankheit verbringen und dennoch, oder gerade deshalb darum ringen, ein eigenes, befreites Leben zu führen und Seelenfrieden zu finden. Dieses Moment, daß man sehr jung ein einschneidendes Erlebnis haben kann, mit dem dann weiterleben muß, spielt in diesem Musiktheater am Ende eine entscheidende Rolle. Theodora wird aber eben nicht wahnsinnig. Wahnsinn ist dieser Nicht-Ort, dem man den Frauen meistens als einzigen Ort, als Ort von Pseudo-Hoffnungen, zugesteht. Theodora wird zwar verlassen, kann aber aus ihrem Erlebten, ihrem Schmerz, ihrem verlorenen Liebesjubel, vielleicht Schlüsse ziehen und bewußt und mit realer Hoffnung und Kraft von Neuem beginnen. So haben wir einen pessimistisch-optimistischen Schluß gefunden, ein offenes Ende mit Hoffnungsschimmer. Umgesetzt wird dieses letzte Bild so, daß Theodoras Gesicht, auf der großen Filmleinwand, mittels eines Bild-morphing-Programmes langsam älter und älter wird, während sie als Bühnengestalt davorsitzt. Theodoras Stimme wird vollkommen live-elektronisch mit Random-vibrati, Akkordtranspositionen und Delays verändert und in den Raum projiziert. An diesem, aber auch nur an diesem Punkt, kann die Sängerin mit dem von mir vorgegebenen Material - Konsonanten und Wortfragmenten in verschiedenen Lagen - frei umgehen und mit diesem spielen, also spontan auf ihr eigenes Singen reagieren, welches ja durch Delays im Raum stehen bleibt.
Wenn Ihnen der Inhalt meines Musiktheaters jetzt vielleicht kriegerisch erscheinen wird und Sie mich fragen könnten, warum ich dieses entstehende Werk als Beispiel für dieses Thema "Ist Frieden komponierbar" hernehme, so muß ich Ihnen kurz erklären, wie ich das meine. Indem man dem Menschen bzw. dem Publikum seinen Spiegel vorhält und ihm aber gleichzeitig auch die Künstlichkeit der gezeigten Situation - Theater kann immer nur künstlich sein und nie die pure Abbildung von Realität - ohne Belehrung klarmacht, erhoffe ich mir, daß der zuhörende und zusehende Mensch über Umwege zu einem positiveren Verhalten kommen möge. Die Musik könnte dazu da sein, den Zuhörer tiefer in dieses Aufgezeigte hineinzuziehen und Konflikte bewußter zu machen.
Ein weiterer Aspekt dieses Theaterstücks ist sein böser schwarzer Humor. Ich habe einen Stoff gesucht, bei dem man stets zwischen Lachen und Weinen schwankt. Ich finde, man kann einfach lachen, daß man ein Mensch ist, aber andererseits ist das Leben auch sehr traurig und trostlos. Ich mag eben beides - Slapstick und das Gegenteil. In der Geschichte von Carrington ist beides angelegt. Es ist einerseit komisch - André Breton hat dieses Stück als "érotisme comique" bezeichnet. Das Lachen ist der Ausnahmezustand. Es steht außerhalb des Gesetzes, es zeigt den Zustand des Verbotenen. Aber das Lachen kann auch eine Widerstandshandlung gegen den Schrecken sein. Das Lachen in diesem Stück steht jenseits verbalischer Ordnung. Andererseits gibt es in dieser Geschichte aber die konstant präsente Ebene der Auswegslosigkeit und des Schreckens. Die Gegensätze zwischen Terror einerseits und Menschenwürde, Freiheit und Hoffnung andererseits prallen am heftigsten im längsten Bild von "Bählamms Fest" aufeinander. Es ist die Szene im Kinderzimmer. Theodora flüchtet immer wieder in ihr Kinderzimmer, als Erinnerung an die Kindheit und auf der Suche nach Freiheit und Spiel, also zurück in eine Phase, wo man relativ frei leben konnte. Ein Rückzugsort, um der Illusionslosigkeit und der Erfahrung der Beengtheit zu entkommen. Hier begegnet sie auch das erste Mal dem Wolfsmenschen, der durch das Fenster hereinspringt. Das Kinderzimmer, wie schon gesagt, ist für mich in diesem Theaterstück das Symbol für Freiheit, Spiel und Hoffnung, aber auch das Zeichen sinnloser Gewalt und Brutalität, verdeutlicht durch den Auftritt der Haustiere, die von einem sadistischen Kind ermordet wurden und Theodora mit den Worten "Das Leben ist doch viel schlechter!" in das Reich der Toten rufen.
An diesem Punkt möchte ich ein einziges Mal ein wenig über das verwendete musikalische Material in diesem Kinderzimmer-Bild sprechen. Im Vorspiel, im kurzen Nachspiel und manchmal, blitzartig, während des fünften Bildes selbst wird neben vielen Kinderspielzeuginstrumenten, Tröten und Klappern, chorischem Kichern und Glucksen über Lautsprecher, auch ein zeitlich verändertes Kinderlied vom Orchester widergegeben. Dazu kommt als Tonbandeinspielung eine verzerrte und mit Glasklängen überlagerte Spieluhrmelodie. Diese verzerrte Melodie wirkt schrill und symbolisiert die verlorene Kindheit. Zu diesen Fragmenten wird zur Verdeutlichung eines unklaren Erinnerungsamalgams eine live-elektronisch veränderte und in den Raum projizierte Tuba herangezogen. Aus all diesen Überlagerungen tauchen schattenhaft zwei fragmentierte jiddische Kinderliedermelodien von Mordechaj Gebirtig auf. Als Symbol für eine durch äußerste Brutalität für immer zerstörte Welt, sowie als Widerspiegelung des Zeitbezugs, nämlich 1940. Durch die eine Melodie "Huljet, huljet kinderlech, kolsmar ir sent noch jung, wajl fun friling bis zum winter is a kaznsprung" und die andere, in der die süßen Kinderjahre besungen werden, die ewig in Erinnerung bleiben, möge eine gewisse Art von Hoffnung als Gegensatz zur Barbarei und zur brutalen Außenwelt vermittelt werden. Obwohl gerade die Wahl zweier Kinderlider von Gebirtig ein Paradoxon darstellt, weil ja gerade die Kultur des osteuropäischen Judentums durch Terror zerstört wurde, hoffe ich, daß die beiden Melodien durch ihre Klarheit und Zartheit der musikalischen Umgebung eine zerbrechliche Schönheit geben.
Theodoras Einsamkeit und Anderssein, ihr Ausbrechenwollen aus dem Mief der Starrheit und ihr Scheitern ist gleichsam eine Form des Überlebens, des Mutes und ein Protest gegen den alltäglichen Wahnsinn und damit ein Mittel, sich der Emotionslosigkeit und Kommunikationsunfähigkeit des modernen Lebens zu stellen. Sie kämpft gegen Beengtheit an und setzt sich dadurch der Bequemlichkeit unserer Medien und Regeln orientierten und dominierten Gesellschaft entgegen. Darin liegt vielleicht für uns alle Hoffnung...
Was das Komponieren meiner Musik anbelangt, möchte ich, da das Musiktheaterwerk noch nicht abgeschlossen ist, und ich noch einige musikalische Überlegungen anstellen muß, nur soviel sagen: Jedes der dreizehn Bilder stellt, je nach Situation, ein andersfarbiges Klangtableau, verschiedener Dichtegrade dar. Musikalische Momentaufnahmen, die von Schärfe, Witz und Schnelligkeit - wie ich hoffe - bestimmt sind. Es gibt in diesem Sinn keine konventionell-narrative Dramaturgie außer, daß man den Ausbruchversuch von Theodora - als roten Faden - Bild für Bild verfolgen kann. Auf beinahe jedes Bild folgt, als von mir verändertes und erweitertes Blackout im Libretto, eine sogenannte "Eis/Schnee-Insel". Darin werden stets drei Instrumente und ab und zu auch zwei Gläser, live-elektronisch verändert und in den Raum proji ziert. Diese "Eis/Schnee-Inseln" können so lange wie benötigt gespielt werden und repräsentieren so in gewisser Weise die Grausamkeit und gleichzeitig nicht-nachahmbare Schönheit der Natur sowie auch die verschiedenen Stimmungen der Heidelandschaft. Manchmal haben die auch die Funktion, das vorhergegangene Bild zu verlängern und zu hinterfragen. Die Musik schaltet analog zu den verschiedenen Welten und Zuständen der handelnden Personen ständig zwischen unveränderten Ensembleklängen, live-elektronischen Klängen und Hybridklängen beider Ebenen hin und her.
Wie gesagt, mit diesem Beispiel versuchte ich zu verdeutlichen, daß ich kritische Momente und Probleme unserer Zeit heute an Hand dieser Familienstory - aber auch nur mit Hilfe von Sprache, von Literatur als Stütze - aufzeigen kann, aber Frieden selbst, als utopischen Zustand, keinesfalls komponieren kann.
Diese kleine Abhandlung möchte ich mit einem Zitat aus Balthasar Gracians "Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit", das für viele Dadaisten, Surrealisten und Dandys eine anregende Quelle war, beenden.
"Natur und Kunst: der Stoff und das Werk. Keine Schönheit besteht ohne Nachhülfe, und jede Vollkommenheit artet in Barbarei aus, wenn sie nicht von der Kunst erhöht wird: diese hilft dem Schlechten ab und vervollkommt das Gute. Die Natur verläßt uns gemeinhin beim Besten: nehmen wir unsere Zuflucht zur Kunst. Ohne sie ist die beste natürliche Anlage ungebildet, und den Vollkommenheiten fehlt die Hälfte, wenn ihnen die Bildung fehlt. Jeder Mensch hat, ohne künstliche Bildung, etwas Rohes und bedarf in jeder Art von Vollkommenheit der Politur."
up
(für das Symposium:"music and peace")
© 1998
Ist Frieden "komponierbar"? Ich bin irritiert. Wie soll man einen utopischen Zustand komponieren können? Ich bin ja kein Heilsbringer...
Da ich einer Generation entstamme, in der die Hoffnung auf "give peace a chance" sowie die Konzepte eines friedlichen zwischenmenschlichen- und globalen Zusammenlebens nicht eingelöst wurden und das Erkämpfte und Erarbeitete der 60er und 70er Jahre eher wieder Stück für Stück rückgängig gemacht werden, Mega-Konzerne und Medien auch schon den Alltag des kleinen Mannes diktieren, Kriege und Flüchtlingsströme all überall zu beobachten sind, kann die Perspektivenlosigkeit unserer Generation am Ende des 20.Jahrhunderts nicht mit eindeutigen Aussagen beschrieben werden, sondern eher mit Schnappschüssen, nicht-linearen Abfolgen, nicht-aufklärerischen Schlußfolgerungen und nicht-kausalen Verknüpfungen. In einer Zeit, in der der Künstler - besonders aber der Komponist als eine verleugnete Existenz der Gesellschaft - als nutzlos und als Kuriosität wahrgenommen wird, kann die Kunst nicht mehr das moralische Problem des Helden, nicht mehr die Ideale, die er am Ende verkündet, darstellen, sondern nur die Maßnahme des Künstlers selbst sich auszudrücken - was aber nicht mit Verinnerlichungskitsch zu verwechseln ist. Diese Maßnahme ist die einzige Art und Weise von Reaktion, die dem Künstler in Momenten der Krise, des Chaos, der Verletzung von Menschenrechten und Zeiten der Unsicherheiten bleiben. Also: sein Konstruktives, seine Art in den Mitteln des Mitreißens, der Spannung, der bewußten Anwendung von Prinzipien des Ausdrucks und des Baus sowie die Bewußtmachung des schöpferischen Akts, ist des Künstlers einzige Möglichkeit des Reagierens auf seine Umwelt.
Wie kann ich in absolut nicht friedlichen Zeiten, in denen Nationalismus den Geist der Menschen bestimmt, und auch Menschenverachtendes schon im zwischenmenschlichen Bereich vorherrscht - wohl ein besonderes Zeichen, daß der Mensch unfähig ist friedlich nebeneinander zu existieren - Frieden komponieren? Musik ist für mich nicht automatisch das Synonym für Frieden. Wie absurd! Gerade Musik wurde all zu oft in all den Jahrhunderten manipuliert und als Propagandamittel eingesetzt. Wenn sogar in einem demokratischen Staat wie Österreich zur Angelobung des Präsidenten noch ein Marsch in Auftrag gegeben wird, dann bezweifle ich überhaupt, daß Musik mit Frieden zusammengebracht werden kann. Natürlich gibt es die Sehnsucht nach einer öffentlich wirkenden Vernunft, welche die Masken entlarvt, die dem Blick über den eigenen Horizont hinaus, die Angst und den Umgang mit Ungewohntem den Verdacht des Würdelosen nimmt. Ein Hörerlebnis bedeutet oft in eine unbekannte, quasi "schönere" Welt einzutauchen, vielleicht sogar der Lethargie für kurze Zeit zu entkommen. Nur: für mich kann der Sinn von Musik nicht darin liegen, Menschen mit naiven Verheißungen einzulullen, gefügig zu machen und dadurch eine bessere Realität vorspielen zu wollen. Wenn schon, möchte ich bewußt denkende Menschen als Zuhörer haben, die in der Musik und der Kunst allgemein die Funktion der Widerspiegelung des suchenden Menschen sehen. Der suchende Mensch, der entschlossen ist, das Gewohnte zu begreifen, das blind Herrschende zu überwinden und ins Unbekannte vorzustoßen und daher offener und toleranter seiner Umgebung gegenüber ist. In dem Sinn: erarbeiteter Frieden im sozialen Zusammenleben. Da ich keinen schönen Schein, keine Ziel-, keine Wunschvorstellung konkret in Musik umsetzen kann, kann ich persönlich nur das Nicht-ankommen-können, das Zögern vor dem Ziel, jene Angst vor dem endgültigen Anfang komponieren. Ich möchte niemanden eine Belehrung vorsetzen, nur Gedanken an das Schmerzliche und Zarte, das um die Welt liegt, das öffentlich Zweideutige und menschlich Vergebliche, das sie umgibt, durch Musik vermitteln. Denn Begriffe wie Freiheit und Würde wurden von der Gesellschaft als hohle Floskeln in Besitz genommen, deren Kriterium nicht Humanität als letzte Konsequenz ist, sondern eigene Selbstbespiegelung und Machtdemonstration.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf mein gerade entstehendes Musiktheater, welches so etwas werden möge wie Joseph Conrads Schreiben, das genauso gefährdet war wie seine Reisen zu See, eingehen. Ich hoffe, daß es beim Hörer eine Art "Fernweh" auslöst, und dadurch sein Bedürfnis nach aufmerksamen Beobachten und Betrachten seiner Umgebung und seiner Mitmenschen intensiviert und dadurch möglicherweise eine Veränderung in den Köpfen der Menschen hervorruft.
In all meinen permanenten Versuchen, mit abrupten Schnitten, Überlagerungen, rasch aufeinanderfolgenden Kontrasten, ins Nichts führenden Gesten und Montagen heterogener Materialien gegen die Absurditäten des Alltags anzulaufen, habe ich für dieses Musiktheaterprojekt auf ein surrealistisches Theaterstück von 1940 zurückgegriffen, in dem es um das zeitlose Thema der gesellschaftlichen Enge und Unterdrückung sowie um den erhofften Frieden durch Liebe - oder Flucht vor der Realität? - geht. Verstärkt wird diese Problematik, und das ist mir wichtig, durch den realen zeitlichen Hintergrund, in dem das Theaterstück entstanden ist.
In den Tagen, in denen Leonora Carrington "Das Fest der Lämmer" schrieb, ein wildes Epos über ein perverses Familiengeflecht, in dem Liebe mit Herrschsucht einhergeht, wurde nicht nur ihr Freund Max Ernst in ein französisches Konzentrationslager abgeführt, sondern in diesen Tagen erlebte Frankreich das größte Desaster seiner Geschichte: Hunderttausende Tote forderte der Krieg allein im Juni 1940, doppelt soviele Verwundete, die Eroberung von zwei Drittel seines Territoriums und die totale Demütigung des französischen Volkes. Die deutschen Truppen stießen bedrohlich rasch gegen Süden vor, die Gerüchte über das Näherrücken jagte über die Dörfer und Städte des Südens.
Meine Entscheidung für genau dieses surrealistische Theaterstück kommt aus einem Dürsten, wie es in einer Passage aus Maurice Nadeaus Buch "Geschichte des Surrealismus" beschrieben wird, dort bezogen auf André Bretons surrealistisches Manifest "Qu´ est-ce que le surréalisme?" von 1934: "Die surrealistische Gesinnung, d.h. die surrealistische Verhaltensweise kommt nämlich zu allen Zeiten vor, sofern man sie als die Bereitschaft auffaßt, das Wirkliche tiefer zu ergründen, ohne damit sogleich transzendieren zu wollen, und ´sich die sinnlich wahrnehmbare Welt immer deutlicher und zugleich immer leidenschaftlicher bewußt zu machen´ (André Breton), wonach ja alle jene Philosophien trachten, die sich nicht damit begnügen, die Welt nur sein zu lassen, wie sie ist; und wonach das Herz des Menschen dürstet, ohne je gestillt zu werden." Dies ist auch der Ansatzpunkt, der mich am Surrealismus reizt. Man kann, so denke ich, durch Überhöhung, Künstlichkeit und ironische Verfremdung und Distanz viel tiefer zur Wirklichkeit zurückkehren.
Zum Inhalt im Allgemeinen: Es handelt sich um eine sadistische Familiengeschichte in skurril-surrealen Momentaufnahmen. Das Haus einer eigenartigen Familie steht in einer vollkommen fernen, heideartigen Landschaft. Wir haben also schon hier die Entfremdung, die in dem Stück eine große Rolle spielt, nämlich die innere und äußere Kälte. In diesem "House of Usher", bei mir "House of Carnis", finden sadistische Eiszeitgelüste übersinnlicher Art statt. Dieses etwas heruntergekommene bürgerliche Haus in der Abgeschiedenheit ist Schutzraum und Tollhaus zugleich, hier ist man sich nah und grausig fremd - das ist so komisch wie tragisch, so zärtlich wie schräg und schrill. Hier rücken in bizarren Impressionen von Familienleben Menschen und Natur ins Zentrum: eine äußere Welt, die in Gewalt, Kälte und Terror erstickt und eine kleine, innereWelt einer bürgerlichen Familie, die genormt ist bis in den letzten Winkel, aber plötzlich ins Chaos kippt, wenn Paare und Generationen sich über ihren ungestillten Sehnsüchten und Wünschen brutal in die Haare geraten oder Alleingelassene in ihrer Auswegslosigkeit in rasende Autoagression verfallen.
Philip, der dem Ingwerwein ergebene, übelriechende, alternde, herrische Großbürger-Gatte mit Anklängen an Carringtons eigenen autoritären Vater, und Jeremy - halb Mensch, halb Wolf - die schneeweiße Lichtgestalt, das erhoffte Andere, dem die junge Theodora rettungslos verfallen ist, sind die beiden konkurrierenden Männerfiguren. Theodora versucht dem tristen Alltag, gekennzeichnet durch Philips sadistische Kälte und der alten Mrs.Carnis übertriebenen Liebe zu ihren beiden Söhnen, Philip und Jeremy, zu entkommen. Sie sucht das Andere, Freie, Offene, Friedliche, Neue in der Gestalt des Wolfsmenschen Jeremy, einer Art "arktischem Vampir". Das Kinderzimmer als Schutz- und Hoffnungsraum und als Raum zum Aufarbeiten der eigenen Geschichte, wird ihr bevorzugter Aufenthaltsraum. Jeremy, bei mir ein Countertenor, erscheint ihr das erste Mal in diesem Zimmer. Er liebt sie zärtlich, entschwindet aber immer wieder. Der utopische Moment der Gleichrangigkeit und Gleichgestelltheit der beiden Personen Theodora und Jeremy, wird stimmlich durch den sehr ähnlichen Stimmumfang der androgynen Stimmlage des Countertenors und Theodoras lyrischem Sopran, verdeutlicht. Philip und seine erste Frau Elizabeth verfolgen das Anderssein der beiden mit Haß. Es verwirrt sie die mögliche Veränderung. Philip ist eine Mischung aus ungeschicktem Trampeltier und pervertiertem Spießbürger, der um sich herum alles verwüstet. Elizabeth ist eine mondäne, rachsüchtige Frau. Ihrer beiden sinnloses, wütendes, automatenhaft entleertes Vorwärtsstürmen gegen die Hoffnung, gegen Jeremy und Theodora, kennt keinen Anfang und kein Ende: Was zurückbleibt, ist eine menschenleere Landschaft. Blut, Krieg und Zerstörung werden evoziert. Diese beiden Figuren sind das Symbol für mich, was in unserer Zeit vor sich geht: Egoismus, blinder Haß, Machtstreben, Menschenverachtung, Brutalität, Grausamkeit, agressive Geldgier, Geschichtslosigkeit und pure Zerstörungswut. Der wild gewordene (Klein-) Bürger als Protagonist des Bösen, der Nährboden für Intoleranz.
Jeremy wird schließlich ermordet. Das Andere, Unorthodoxe, Freie darf nicht sein. Jeremy erscheint Theodora noch ein letztes Mal als Gespenst - all seine Gesänge kommen nun nur mehr aus einem Ghettoblaster. Sie werden mit einem Sound-morphing-Programm verändert. Er verspricht ihr, wiederzukommen. Aber nur, wenn sie folgende Bedingungen erfüllt: Schön muß sie bleiben, schön, fröhlich und jung. Theodoras Ausbruchsversuche scheitern am irren, intoleranten Schönheitskult. Hier endet das Theaterstück von Leonora Carrington in der absoluten Tristesse. Die Librettistin Elfriede Jelinek und ich haben dieser letzten Szene aber noch ein Bild folgen lassen. Theodora ist sehr jung, und was wir nun am Ende aufzeigen wollten, ist analog zu dem, was Muriel Gardiner, eine amerikanische Psychoanalytikerin, in ihrem Artikel "The wolfman grows older" über Sigmund Freuds erste Fallstudie "The wolfman", geschrieben hat. Dieser Mann war in ganz frühen Jahren in Behandlung bei Freud, mußte dann aber nach Freuds Tod noch sein gesamtes langes Leben mit seiner Krankheit verbringen und dennoch, oder gerade deshalb darum ringen, ein eigenes, befreites Leben zu führen und Seelenfrieden zu finden. Dieses Moment, daß man sehr jung ein einschneidendes Erlebnis haben kann, mit dem dann weiterleben muß, spielt in diesem Musiktheater am Ende eine entscheidende Rolle. Theodora wird aber eben nicht wahnsinnig. Wahnsinn ist dieser Nicht-Ort, dem man den Frauen meistens als einzigen Ort, als Ort von Pseudo-Hoffnungen, zugesteht. Theodora wird zwar verlassen, kann aber aus ihrem Erlebten, ihrem Schmerz, ihrem verlorenen Liebesjubel, vielleicht Schlüsse ziehen und bewußt und mit realer Hoffnung und Kraft von Neuem beginnen. So haben wir einen pessimistisch-optimistischen Schluß gefunden, ein offenes Ende mit Hoffnungsschimmer. Umgesetzt wird dieses letzte Bild so, daß Theodoras Gesicht, auf der großen Filmleinwand, mittels eines Bild-morphing-Programmes langsam älter und älter wird, während sie als Bühnengestalt davorsitzt. Theodoras Stimme wird vollkommen live-elektronisch mit Random-vibrati, Akkordtranspositionen und Delays verändert und in den Raum projiziert. An diesem, aber auch nur an diesem Punkt, kann die Sängerin mit dem von mir vorgegebenen Material - Konsonanten und Wortfragmenten in verschiedenen Lagen - frei umgehen und mit diesem spielen, also spontan auf ihr eigenes Singen reagieren, welches ja durch Delays im Raum stehen bleibt.
Wenn Ihnen der Inhalt meines Musiktheaters jetzt vielleicht kriegerisch erscheinen wird und Sie mich fragen könnten, warum ich dieses entstehende Werk als Beispiel für dieses Thema "Ist Frieden komponierbar" hernehme, so muß ich Ihnen kurz erklären, wie ich das meine. Indem man dem Menschen bzw. dem Publikum seinen Spiegel vorhält und ihm aber gleichzeitig auch die Künstlichkeit der gezeigten Situation - Theater kann immer nur künstlich sein und nie die pure Abbildung von Realität - ohne Belehrung klarmacht, erhoffe ich mir, daß der zuhörende und zusehende Mensch über Umwege zu einem positiveren Verhalten kommen möge. Die Musik könnte dazu da sein, den Zuhörer tiefer in dieses Aufgezeigte hineinzuziehen und Konflikte bewußter zu machen.
Ein weiterer Aspekt dieses Theaterstücks ist sein böser schwarzer Humor. Ich habe einen Stoff gesucht, bei dem man stets zwischen Lachen und Weinen schwankt. Ich finde, man kann einfach lachen, daß man ein Mensch ist, aber andererseits ist das Leben auch sehr traurig und trostlos. Ich mag eben beides - Slapstick und das Gegenteil. In der Geschichte von Carrington ist beides angelegt. Es ist einerseit komisch - André Breton hat dieses Stück als "érotisme comique" bezeichnet. Das Lachen ist der Ausnahmezustand. Es steht außerhalb des Gesetzes, es zeigt den Zustand des Verbotenen. Aber das Lachen kann auch eine Widerstandshandlung gegen den Schrecken sein. Das Lachen in diesem Stück steht jenseits verbalischer Ordnung. Andererseits gibt es in dieser Geschichte aber die konstant präsente Ebene der Auswegslosigkeit und des Schreckens. Die Gegensätze zwischen Terror einerseits und Menschenwürde, Freiheit und Hoffnung andererseits prallen am heftigsten im längsten Bild von "Bählamms Fest" aufeinander. Es ist die Szene im Kinderzimmer. Theodora flüchtet immer wieder in ihr Kinderzimmer, als Erinnerung an die Kindheit und auf der Suche nach Freiheit und Spiel, also zurück in eine Phase, wo man relativ frei leben konnte. Ein Rückzugsort, um der Illusionslosigkeit und der Erfahrung der Beengtheit zu entkommen. Hier begegnet sie auch das erste Mal dem Wolfsmenschen, der durch das Fenster hereinspringt. Das Kinderzimmer, wie schon gesagt, ist für mich in diesem Theaterstück das Symbol für Freiheit, Spiel und Hoffnung, aber auch das Zeichen sinnloser Gewalt und Brutalität, verdeutlicht durch den Auftritt der Haustiere, die von einem sadistischen Kind ermordet wurden und Theodora mit den Worten "Das Leben ist doch viel schlechter!" in das Reich der Toten rufen.
An diesem Punkt möchte ich ein einziges Mal ein wenig über das verwendete musikalische Material in diesem Kinderzimmer-Bild sprechen. Im Vorspiel, im kurzen Nachspiel und manchmal, blitzartig, während des fünften Bildes selbst wird neben vielen Kinderspielzeuginstrumenten, Tröten und Klappern, chorischem Kichern und Glucksen über Lautsprecher, auch ein zeitlich verändertes Kinderlied vom Orchester widergegeben. Dazu kommt als Tonbandeinspielung eine verzerrte und mit Glasklängen überlagerte Spieluhrmelodie. Diese verzerrte Melodie wirkt schrill und symbolisiert die verlorene Kindheit. Zu diesen Fragmenten wird zur Verdeutlichung eines unklaren Erinnerungsamalgams eine live-elektronisch veränderte und in den Raum projizierte Tuba herangezogen. Aus all diesen Überlagerungen tauchen schattenhaft zwei fragmentierte jiddische Kinderliedermelodien von Mordechaj Gebirtig auf. Als Symbol für eine durch äußerste Brutalität für immer zerstörte Welt, sowie als Widerspiegelung des Zeitbezugs, nämlich 1940. Durch die eine Melodie "Huljet, huljet kinderlech, kolsmar ir sent noch jung, wajl fun friling bis zum winter is a kaznsprung" und die andere, in der die süßen Kinderjahre besungen werden, die ewig in Erinnerung bleiben, möge eine gewisse Art von Hoffnung als Gegensatz zur Barbarei und zur brutalen Außenwelt vermittelt werden. Obwohl gerade die Wahl zweier Kinderlider von Gebirtig ein Paradoxon darstellt, weil ja gerade die Kultur des osteuropäischen Judentums durch Terror zerstört wurde, hoffe ich, daß die beiden Melodien durch ihre Klarheit und Zartheit der musikalischen Umgebung eine zerbrechliche Schönheit geben.
Theodoras Einsamkeit und Anderssein, ihr Ausbrechenwollen aus dem Mief der Starrheit und ihr Scheitern ist gleichsam eine Form des Überlebens, des Mutes und ein Protest gegen den alltäglichen Wahnsinn und damit ein Mittel, sich der Emotionslosigkeit und Kommunikationsunfähigkeit des modernen Lebens zu stellen. Sie kämpft gegen Beengtheit an und setzt sich dadurch der Bequemlichkeit unserer Medien und Regeln orientierten und dominierten Gesellschaft entgegen. Darin liegt vielleicht für uns alle Hoffnung...
Was das Komponieren meiner Musik anbelangt, möchte ich, da das Musiktheaterwerk noch nicht abgeschlossen ist, und ich noch einige musikalische Überlegungen anstellen muß, nur soviel sagen: Jedes der dreizehn Bilder stellt, je nach Situation, ein andersfarbiges Klangtableau, verschiedener Dichtegrade dar. Musikalische Momentaufnahmen, die von Schärfe, Witz und Schnelligkeit - wie ich hoffe - bestimmt sind. Es gibt in diesem Sinn keine konventionell-narrative Dramaturgie außer, daß man den Ausbruchversuch von Theodora - als roten Faden - Bild für Bild verfolgen kann. Auf beinahe jedes Bild folgt, als von mir verändertes und erweitertes Blackout im Libretto, eine sogenannte "Eis/Schnee-Insel". Darin werden stets drei Instrumente und ab und zu auch zwei Gläser, live-elektronisch verändert und in den Raum proji ziert. Diese "Eis/Schnee-Inseln" können so lange wie benötigt gespielt werden und repräsentieren so in gewisser Weise die Grausamkeit und gleichzeitig nicht-nachahmbare Schönheit der Natur sowie auch die verschiedenen Stimmungen der Heidelandschaft. Manchmal haben die auch die Funktion, das vorhergegangene Bild zu verlängern und zu hinterfragen. Die Musik schaltet analog zu den verschiedenen Welten und Zuständen der handelnden Personen ständig zwischen unveränderten Ensembleklängen, live-elektronischen Klängen und Hybridklängen beider Ebenen hin und her.
Wie gesagt, mit diesem Beispiel versuchte ich zu verdeutlichen, daß ich kritische Momente und Probleme unserer Zeit heute an Hand dieser Familienstory - aber auch nur mit Hilfe von Sprache, von Literatur als Stütze - aufzeigen kann, aber Frieden selbst, als utopischen Zustand, keinesfalls komponieren kann.
Diese kleine Abhandlung möchte ich mit einem Zitat aus Balthasar Gracians "Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit", das für viele Dadaisten, Surrealisten und Dandys eine anregende Quelle war, beenden.
"Natur und Kunst: der Stoff und das Werk. Keine Schönheit besteht ohne Nachhülfe, und jede Vollkommenheit artet in Barbarei aus, wenn sie nicht von der Kunst erhöht wird: diese hilft dem Schlechten ab und vervollkommt das Gute. Die Natur verläßt uns gemeinhin beim Besten: nehmen wir unsere Zuflucht zur Kunst. Ohne sie ist die beste natürliche Anlage ungebildet, und den Vollkommenheiten fehlt die Hälfte, wenn ihnen die Bildung fehlt. Jeder Mensch hat, ohne künstliche Bildung, etwas Rohes und bedarf in jeder Art von Vollkommenheit der Politur."
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