Olga Neuwirth
Notizen zu American Lulu (2006-2011)
Extreme haben mich immer fasziniert, Extreme der Sinnlichkeit und der Abstraktion, beides findet man in Alban Bergs Lulu. Es ging mir nicht darum, einen authentischen Alban Berg wieder zu erschaffen, sondern aus der Perspektive einer Frau, einer Komponistin meiner Generation, einen neuen Blick auf diese mystische Frauengestalt (mal als »Rätsel-Weib«, »Schlange«, »Dämon-Weib«, »Sphinx« oder »Kindweib« angesehen und von berühmten wissenschaftlichen »Weib«-Interpreten wie Krafft-Ebing oder Sigmund Freud und seinem Kreis gedeutet) zu werfen. Es waren alles immer Blicke von Männern auf diese Frauengestalt Lulu. Dieser männliche Blick auf weibliche Hauptfiguren in Opern hat mich schon immer irritiert.
Ist die Zweite Wiener Schule doch bekannt für ihre Bearbeitungen von Werken anderer Komponisten, so war es für mich naheliegend genau diese Opernfigur Lulu neu zu betrachten. Ich glaube, dass gerade dieses unvollendete, berühmte Musiktheater des 20.Jahrhunderts und ihre handelnden Personen von jeder Generation neu durchdacht werden kann, da Berg in seiner Musik die Handlung bis in ihre psychologischen Nuancen auslotet und dafür musikalische Lösungen findet.
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Der Film, den ich bereits als Kind gesehen habe, nämlich Otto Premingers Carmen Jones aus dem Jahre 1954, in dem er die Oper Carmen in den Süden der USA verlegt und ausschließlich mit Afroamerikanern besetzt, hat mich angeregt, meine Neubetrachtung von Alban Bergs Lulu nach New Orleans und New York City zu verlegen. Basierend auf Bergs Idee, Wedekinds Drama, das um 1900 spielt, in einen neuen gesellschaftlichen Kontext zu versetzen, nämlich um 1930, entschied ich mich, meine Neuinterpretation in die USA der 1950er und 1970er Jahre zu verlegen, nämlich auf dem Hintergrund des »civil rights movement«, der »counterculture« und der verschiedenen »liberation movements«. Mein Vater ist Jazzmusiker und ich bin mit Jazz und Jazzmusikern aufgewachsen. Die begeisterten Erzählungen von US-Kollegen meines Vaters über den erstaunlichen Dokumentarfilm The Cry of Jazz des Afroamerikaners Edward Bland veranlasste mich bereits als Zwölfjährige ein Theaterstück mit afroamerikanischen Jazz-Musikern in Harlem zu schreiben. Dieses wurde zu meiner Freude 1980 bei einem Schultheater-Festival realisiert. Mich interessierten aber auch hinsichtlich einer „ver-orteten Lulu“ Exploitationfilme, die ab den 1930er Jahren häufig Low-Budget-Filme waren, in denen durch eine reisserische Grundsituation meist Gewalt, sexuelle Handlungen und heikle Themen aller Art dargestellt wurden. Genau diese fließende Grenze zwischen Schund, Kitsch und kulturellem Gegententwurf finde ich in den Blaxploitation-Filmen wie Melvin Van Peebles' Sweet Sweetback's Baadasssss Song oder Coffy von Jack Hill besonders spannend.
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In der formalen Anlage von Bergs so reichhaltiger Musiksprache in seiner Oper Lulu erscheinen auch viele absolute Formen wie z.B. Sonate, Arietta oder Kavatine, aber eben auch English-Waltz und Ragtime. Denn unter dem Eindruck der umfassenden Verbreitung der Jazzmusik in den 1920er Jahren, schrieben u.a. Igor Strawinsky, Paul Hindemith und Ernst Krenek Kompositionen, die vom Jazz beeinflusst waren. So schien auch an Berg dieser neue Einfluss nicht vorbei zu ziehen. Dies wird in einer Korrespondenz zwischen Alban Berg und Erwin Schulhoff angesprochen. Schulhoff lernte Jazz, amerikanischen Ragtime, und amerikanische Tanzmusik in den frühen 1920er Jahren von seinem Freund George Grosz kennen, der phonographische Aufnahmen von amerikanischer Musik sammelte. Deshalb entschloss ich mich, die in Bergs Lulu Partitur bezeichnete Filmmusik und Musik der Jazzband auf einer Wonder Morton Organ erklingen zu lassen. Auch deswegen, da Bergs Einsatz von Film und der Beginn seiner Komposition an seiner Lulu 1929 beginnt und diese besondere Kinoorgel ihre Blütezeit in den späten 1920er Jahren hatte. Eine der wenigen heute noch funktionierenden und bei Kino Vorführungen gespielten Wonder Morton Organ steht im Loew’s Jersey Theater in Jersey City. Als ich während eines New York Aufenthaltes 2007 auf Grund meiner Auseinandersetzung mit der Oper Lulu über Kinoorgeln recherchierte, fand ich heraus, dass eine Wonder Morton Organ, in jahrelanger Kleinarbeit restauriert und im Loew’s Jersey Theater wieder installiert wurde. Ursprünglich war sie 1928 bis 1929 von der Robert-Morton Pipe Organ Company für eines der in der »New York metropolitan area« gebauten Wonder Theaters hergestellt worden. 2010 wandte ich mich an die für diese Orgel zuständige Garden State Theater Organ Society und durfte auf dieser faszinierenden, riesigen Kinoorgel schließlich Alban Bergs Filmmusik und Musik für Jazzband aufnehmen.
In American Lulu habe ich einen Teil der Handlung in den gesellschaftlichen Kontext des rassistischen weißen Südens und den »Civil Rights Movements« versetzt und so kann man in den von mir absichtlich gesetzten harten Schnitten in Bergs Musik Fragmente von Martin Luther King-Reden und Gedichten der Schriftstellerin June Jordan, einer der bedeutendsten afroamerikanischen Lyrikerinnen der Gegenwart, hören. Lulu, Geschwitz (bei mir Eleanor, eine Bluessängerin) und Schigolch (Clarence), dem bei mir im dritten Akt Ragtime-Musik zugeordnet wird, sind, der Verlegung in das New Orleans der 50er Jahre konsequent folgend, Afroamerikaner.
Alban Bergs Musik der ersten beiden Akte habe ich analog zu Bergs Bezeichnung der Jazzband-Musik im 1. Akt, die mit Klarinetten, Saxophonen, Trompeten, Posaunen, Schlagwerk, Banjo, Klavier, Kontrabass und Sousaphon besetzt ist, für ein Blech- und Holzbläserensemble mit elektrischer Gitarre, elektrischem Klavier, Schlagzeugen sowie einer kleinen Streicherbesetzung orchestriert, denn es ist die Musik für Lulus Rückblende in die 50er Jahre in New Orleans, der Stadt der Wiege von Jazz and Blues. Als ein Hinweis auf diese Musik, die entlang des Mississippi Deltas entstand, hört man eine zugespielte Melodie, die auf einer »Calliope« gespielt wird und die in New Orleans spielende »Recollection« (Rückblende) einleitet. Die Calliope ist ein durch Dampf betriebenes Tasteninstrument mit Pfeifen. 1855 erfunden, stand sie später bei Mississippi-Dampfschiffen auf dem Dach und wurde sogar während der Fahrt immer wieder gespielt. Schon der in New Orleans geborene Louis Armstrong begann seine Karriere als Trompeter in einem der Jazzensembles auf einem Misssissippi Dampfer.
So wie Berg in seinem 1928 erschienenem Aufsatz „Opernproblem“ betont, dass nicht etwa die bloße Anwendung des Kinos als ein „zeitgemäßes“ Mittel ein modernes Musiktheater erzeugt, sondern es ihm vielmehr um formale Analogien geht, war es mir wichtig, für die Klangveränderung meiner Neuinstrumentierung des 1. und 2. Aktes der Musik Alban Bergs eine sinnvolle Analogie zu finden. Diese durch die Neuinstrumentierung anders klingende Berg’sche Musik musste für mich daher auch in eine formale Analogie gestellt werden, sie erklingt, wie schon erwähnt, als Rückblick in die Vergangenheit.
Mein dritter Akt spielt im New York der 70er Jahre, und Lulu ist zu einer Nobelhure aufgestiegen, die völlig in sich gefangen scheint. Sie hat Kontakte zu bedeutenden Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, und ihr wird Privates und Öffentliches gleichermaßen ungefragt anvertraut. Das „deus-ex-machina“-Ende durch Jack the Ripper bei Berg empfand ich immer schon als albern: zwei Frauen werden nach langen Irrungen und Verwirrungen einfach von einem Lustmörder abgeschlachtet –und: Aus. Deswegen habe ich mich entschieden meinen neuen 3. Akt als ungelösten Mordfall zu gestalten.
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Vielleicht habe ich einen weniger verklärten Blick auf die Frauenfigur Lulu als die Herren, die sie »erzeugt« haben und auch die, die sie immer wieder interpretiert haben. Bei mir ist Lulu eher eine »kalte Frau«, eine Narzisstin, die alles durchsetzt, was sie im Moment will und dennoch unzufrieden ist, weil sie innerlich leer ist und sich dadurch zu einer »Aktie« macht, die einmal höher, einmal weniger hoch im Kurs steht. Den Wechsel von Erniedrigung und Streicheln betreibt Lulu in so schneller Folge, dass es wie eine Gehirnwäsche bei rasendem Gehämmer wirkt. Dies ist mir fremd und nicht gerade sympathisch. Bei mir kommen Lulu und Eleanor aus ähnlichen Lebensverhältnissen: Die Umgebung beider war von Rassismus und weißem wie schwarzem Männlichkeitswahn geprägt. Beide waren Opfer von Missbrauch in Kindheitsjahren, durch den versucht wurde, ihnen ihr Ich zu nehmen, sie zum reinen Objekt zu machen.
Ich glaube daran, dass der Mensch die Möglichkeit auf Selbstbestimmung hat, auch wenn dieser Weg anstrengender ist, als sich aushalten und anhimmeln zu lassen. Die gequälte und quälende Lulu, ob nun Würgeengel oder Lebensglück – wie sie gern beschrieben wird – lebt von Männern und durch Männer. Sie lässt sich auf ein Gewirr zwielichtiger Machenschaften und Machtspiele ein. Die Andere, Eleanor, beharrt auf dem Unaufhebbaren des Schmerzes und auf ihrer Subjektivität. Sie ringt um Freiheit, geht einen schweren, aber selbst gewählten Weg. Sie sucht selbstbewusst ihren eigenen Ausdruck, ihre eigene Identität.
Doch letztlich zählt für uns heute wieder: Wessen Stimme wird gehört?
Der Auftrag der Komischen Oper, einem Berliner Opernhaus, hat für mich auch auf Grund der Aufführungs-Geschichte von Alban Bergs Lulu eine große Bedeutung. Bergs Lulu sollte in der Saison 1934/35 durch Erich Kleiber in Berlin uraufgeführt werden. 1930 betrug der Anteil der Reichstagssitze der NSDAP bereits 107 (im Vergleich: die der SPD 143). Nach Kleibers Uraufführung von Bergs Lulu-Symphonie durch die Preußische Staatskapelle 1934, begann eine heftige Pressekampagne gegen Berg und Kleiber. Paul Zschorlich von der »Deutschen Zeitung« schrieb u. a. gegen die »Verherrlichung des Lasters«, eine kranke »Kokain-Musik« und »musikalischen Bolschewismus« an und wetterte besonders gegen das »typische Kleiber-Publikum, in dem der Anteil jüdischer Hörer, wie stets bei Kleiber-Konzerten, unverkennbar stark war« und endet damit, dass für »...Kulturexperimente von der Art des Alban Berg-Konzerts kein Betätigungsfeld mehr vorhanden ist«. Erich Kleiber trat vier Tage nach dem Konzert und unter dem Druck des Hitlerregimes als Generalmusikdirektor zurück und verließ unter Protest gegen die nationalsozialistische Kulturpolitik Deutschland im Jänner 1935. Bergs Musik erklang in Deutschland erst wieder nach 1945. Wenn auch in veränderte Form kommt nun Alban Bergs Lulu doch noch in Berlin zur Uraufführung.
(New York, März 2011)
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Notizen zu American Lulu (2006-2011)
Extreme haben mich immer fasziniert, Extreme der Sinnlichkeit und der Abstraktion, beides findet man in Alban Bergs Lulu. Es ging mir nicht darum, einen authentischen Alban Berg wieder zu erschaffen, sondern aus der Perspektive einer Frau, einer Komponistin meiner Generation, einen neuen Blick auf diese mystische Frauengestalt (mal als »Rätsel-Weib«, »Schlange«, »Dämon-Weib«, »Sphinx« oder »Kindweib« angesehen und von berühmten wissenschaftlichen »Weib«-Interpreten wie Krafft-Ebing oder Sigmund Freud und seinem Kreis gedeutet) zu werfen. Es waren alles immer Blicke von Männern auf diese Frauengestalt Lulu. Dieser männliche Blick auf weibliche Hauptfiguren in Opern hat mich schon immer irritiert.
Ist die Zweite Wiener Schule doch bekannt für ihre Bearbeitungen von Werken anderer Komponisten, so war es für mich naheliegend genau diese Opernfigur Lulu neu zu betrachten. Ich glaube, dass gerade dieses unvollendete, berühmte Musiktheater des 20.Jahrhunderts und ihre handelnden Personen von jeder Generation neu durchdacht werden kann, da Berg in seiner Musik die Handlung bis in ihre psychologischen Nuancen auslotet und dafür musikalische Lösungen findet.
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Der Film, den ich bereits als Kind gesehen habe, nämlich Otto Premingers Carmen Jones aus dem Jahre 1954, in dem er die Oper Carmen in den Süden der USA verlegt und ausschließlich mit Afroamerikanern besetzt, hat mich angeregt, meine Neubetrachtung von Alban Bergs Lulu nach New Orleans und New York City zu verlegen. Basierend auf Bergs Idee, Wedekinds Drama, das um 1900 spielt, in einen neuen gesellschaftlichen Kontext zu versetzen, nämlich um 1930, entschied ich mich, meine Neuinterpretation in die USA der 1950er und 1970er Jahre zu verlegen, nämlich auf dem Hintergrund des »civil rights movement«, der »counterculture« und der verschiedenen »liberation movements«. Mein Vater ist Jazzmusiker und ich bin mit Jazz und Jazzmusikern aufgewachsen. Die begeisterten Erzählungen von US-Kollegen meines Vaters über den erstaunlichen Dokumentarfilm The Cry of Jazz des Afroamerikaners Edward Bland veranlasste mich bereits als Zwölfjährige ein Theaterstück mit afroamerikanischen Jazz-Musikern in Harlem zu schreiben. Dieses wurde zu meiner Freude 1980 bei einem Schultheater-Festival realisiert. Mich interessierten aber auch hinsichtlich einer „ver-orteten Lulu“ Exploitationfilme, die ab den 1930er Jahren häufig Low-Budget-Filme waren, in denen durch eine reisserische Grundsituation meist Gewalt, sexuelle Handlungen und heikle Themen aller Art dargestellt wurden. Genau diese fließende Grenze zwischen Schund, Kitsch und kulturellem Gegententwurf finde ich in den Blaxploitation-Filmen wie Melvin Van Peebles' Sweet Sweetback's Baadasssss Song oder Coffy von Jack Hill besonders spannend.
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In der formalen Anlage von Bergs so reichhaltiger Musiksprache in seiner Oper Lulu erscheinen auch viele absolute Formen wie z.B. Sonate, Arietta oder Kavatine, aber eben auch English-Waltz und Ragtime. Denn unter dem Eindruck der umfassenden Verbreitung der Jazzmusik in den 1920er Jahren, schrieben u.a. Igor Strawinsky, Paul Hindemith und Ernst Krenek Kompositionen, die vom Jazz beeinflusst waren. So schien auch an Berg dieser neue Einfluss nicht vorbei zu ziehen. Dies wird in einer Korrespondenz zwischen Alban Berg und Erwin Schulhoff angesprochen. Schulhoff lernte Jazz, amerikanischen Ragtime, und amerikanische Tanzmusik in den frühen 1920er Jahren von seinem Freund George Grosz kennen, der phonographische Aufnahmen von amerikanischer Musik sammelte. Deshalb entschloss ich mich, die in Bergs Lulu Partitur bezeichnete Filmmusik und Musik der Jazzband auf einer Wonder Morton Organ erklingen zu lassen. Auch deswegen, da Bergs Einsatz von Film und der Beginn seiner Komposition an seiner Lulu 1929 beginnt und diese besondere Kinoorgel ihre Blütezeit in den späten 1920er Jahren hatte. Eine der wenigen heute noch funktionierenden und bei Kino Vorführungen gespielten Wonder Morton Organ steht im Loew’s Jersey Theater in Jersey City. Als ich während eines New York Aufenthaltes 2007 auf Grund meiner Auseinandersetzung mit der Oper Lulu über Kinoorgeln recherchierte, fand ich heraus, dass eine Wonder Morton Organ, in jahrelanger Kleinarbeit restauriert und im Loew’s Jersey Theater wieder installiert wurde. Ursprünglich war sie 1928 bis 1929 von der Robert-Morton Pipe Organ Company für eines der in der »New York metropolitan area« gebauten Wonder Theaters hergestellt worden. 2010 wandte ich mich an die für diese Orgel zuständige Garden State Theater Organ Society und durfte auf dieser faszinierenden, riesigen Kinoorgel schließlich Alban Bergs Filmmusik und Musik für Jazzband aufnehmen.
In American Lulu habe ich einen Teil der Handlung in den gesellschaftlichen Kontext des rassistischen weißen Südens und den »Civil Rights Movements« versetzt und so kann man in den von mir absichtlich gesetzten harten Schnitten in Bergs Musik Fragmente von Martin Luther King-Reden und Gedichten der Schriftstellerin June Jordan, einer der bedeutendsten afroamerikanischen Lyrikerinnen der Gegenwart, hören. Lulu, Geschwitz (bei mir Eleanor, eine Bluessängerin) und Schigolch (Clarence), dem bei mir im dritten Akt Ragtime-Musik zugeordnet wird, sind, der Verlegung in das New Orleans der 50er Jahre konsequent folgend, Afroamerikaner.
Alban Bergs Musik der ersten beiden Akte habe ich analog zu Bergs Bezeichnung der Jazzband-Musik im 1. Akt, die mit Klarinetten, Saxophonen, Trompeten, Posaunen, Schlagwerk, Banjo, Klavier, Kontrabass und Sousaphon besetzt ist, für ein Blech- und Holzbläserensemble mit elektrischer Gitarre, elektrischem Klavier, Schlagzeugen sowie einer kleinen Streicherbesetzung orchestriert, denn es ist die Musik für Lulus Rückblende in die 50er Jahre in New Orleans, der Stadt der Wiege von Jazz and Blues. Als ein Hinweis auf diese Musik, die entlang des Mississippi Deltas entstand, hört man eine zugespielte Melodie, die auf einer »Calliope« gespielt wird und die in New Orleans spielende »Recollection« (Rückblende) einleitet. Die Calliope ist ein durch Dampf betriebenes Tasteninstrument mit Pfeifen. 1855 erfunden, stand sie später bei Mississippi-Dampfschiffen auf dem Dach und wurde sogar während der Fahrt immer wieder gespielt. Schon der in New Orleans geborene Louis Armstrong begann seine Karriere als Trompeter in einem der Jazzensembles auf einem Misssissippi Dampfer.
So wie Berg in seinem 1928 erschienenem Aufsatz „Opernproblem“ betont, dass nicht etwa die bloße Anwendung des Kinos als ein „zeitgemäßes“ Mittel ein modernes Musiktheater erzeugt, sondern es ihm vielmehr um formale Analogien geht, war es mir wichtig, für die Klangveränderung meiner Neuinstrumentierung des 1. und 2. Aktes der Musik Alban Bergs eine sinnvolle Analogie zu finden. Diese durch die Neuinstrumentierung anders klingende Berg’sche Musik musste für mich daher auch in eine formale Analogie gestellt werden, sie erklingt, wie schon erwähnt, als Rückblick in die Vergangenheit.
Mein dritter Akt spielt im New York der 70er Jahre, und Lulu ist zu einer Nobelhure aufgestiegen, die völlig in sich gefangen scheint. Sie hat Kontakte zu bedeutenden Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, und ihr wird Privates und Öffentliches gleichermaßen ungefragt anvertraut. Das „deus-ex-machina“-Ende durch Jack the Ripper bei Berg empfand ich immer schon als albern: zwei Frauen werden nach langen Irrungen und Verwirrungen einfach von einem Lustmörder abgeschlachtet –und: Aus. Deswegen habe ich mich entschieden meinen neuen 3. Akt als ungelösten Mordfall zu gestalten.
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Vielleicht habe ich einen weniger verklärten Blick auf die Frauenfigur Lulu als die Herren, die sie »erzeugt« haben und auch die, die sie immer wieder interpretiert haben. Bei mir ist Lulu eher eine »kalte Frau«, eine Narzisstin, die alles durchsetzt, was sie im Moment will und dennoch unzufrieden ist, weil sie innerlich leer ist und sich dadurch zu einer »Aktie« macht, die einmal höher, einmal weniger hoch im Kurs steht. Den Wechsel von Erniedrigung und Streicheln betreibt Lulu in so schneller Folge, dass es wie eine Gehirnwäsche bei rasendem Gehämmer wirkt. Dies ist mir fremd und nicht gerade sympathisch. Bei mir kommen Lulu und Eleanor aus ähnlichen Lebensverhältnissen: Die Umgebung beider war von Rassismus und weißem wie schwarzem Männlichkeitswahn geprägt. Beide waren Opfer von Missbrauch in Kindheitsjahren, durch den versucht wurde, ihnen ihr Ich zu nehmen, sie zum reinen Objekt zu machen.
Ich glaube daran, dass der Mensch die Möglichkeit auf Selbstbestimmung hat, auch wenn dieser Weg anstrengender ist, als sich aushalten und anhimmeln zu lassen. Die gequälte und quälende Lulu, ob nun Würgeengel oder Lebensglück – wie sie gern beschrieben wird – lebt von Männern und durch Männer. Sie lässt sich auf ein Gewirr zwielichtiger Machenschaften und Machtspiele ein. Die Andere, Eleanor, beharrt auf dem Unaufhebbaren des Schmerzes und auf ihrer Subjektivität. Sie ringt um Freiheit, geht einen schweren, aber selbst gewählten Weg. Sie sucht selbstbewusst ihren eigenen Ausdruck, ihre eigene Identität.
Doch letztlich zählt für uns heute wieder: Wessen Stimme wird gehört?
Der Auftrag der Komischen Oper, einem Berliner Opernhaus, hat für mich auch auf Grund der Aufführungs-Geschichte von Alban Bergs Lulu eine große Bedeutung. Bergs Lulu sollte in der Saison 1934/35 durch Erich Kleiber in Berlin uraufgeführt werden. 1930 betrug der Anteil der Reichstagssitze der NSDAP bereits 107 (im Vergleich: die der SPD 143). Nach Kleibers Uraufführung von Bergs Lulu-Symphonie durch die Preußische Staatskapelle 1934, begann eine heftige Pressekampagne gegen Berg und Kleiber. Paul Zschorlich von der »Deutschen Zeitung« schrieb u. a. gegen die »Verherrlichung des Lasters«, eine kranke »Kokain-Musik« und »musikalischen Bolschewismus« an und wetterte besonders gegen das »typische Kleiber-Publikum, in dem der Anteil jüdischer Hörer, wie stets bei Kleiber-Konzerten, unverkennbar stark war« und endet damit, dass für »...Kulturexperimente von der Art des Alban Berg-Konzerts kein Betätigungsfeld mehr vorhanden ist«. Erich Kleiber trat vier Tage nach dem Konzert und unter dem Druck des Hitlerregimes als Generalmusikdirektor zurück und verließ unter Protest gegen die nationalsozialistische Kulturpolitik Deutschland im Jänner 1935. Bergs Musik erklang in Deutschland erst wieder nach 1945. Wenn auch in veränderte Form kommt nun Alban Bergs Lulu doch noch in Berlin zur Uraufführung.
(New York, März 2011)
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