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Pierre Boulez zum 85.
In: Pensieri per Pierre Boulez
Herausgeber: Duilio und Sylvia Courir

Als Studentin lief ich immer wieder in die Universal Edition in Wien und lieh mir Partituren aus, da diese in der Wiener Musikuniversität nicht zu haben waren und ich sie studieren wollte. Besonders begeistert war ich, als ich eine Kopie von Boulez handschriftlicher Partitur von "Repons" haben durfte. Damals, 1993, interessierte ich mich besonders für die Interaktion von Musikern/Ensembles und Live-Elektronik. Ich wollte wissen, wie er, der Maestro, das handhabte. Wie ich Pierre Boulez einige Jahre später in Paris persönlich kennenlernte, habe ich in meinem "Venezianischen Arbeitsjournal" beschrieben.

Die nächste Begegnung fand in seinem Haus in Baden-Baden statt. Er holte mich am Bahnhof persönlich ab, was ich erstaunlich fand. Im Haus angekommen, ergab sich gleich eine skurrile Situation, als ich begeistert sagte, was denn das für wunderschöne alte Tannenbäume seien und er schmunzelnd konterte, die habe er gepflanzt und sie seien beinahe schon so alt wie er. Ich wurde rot und wir gingen schnell dazu über, dass ich ihm erklären sollte, wie in meinem Stück für seinen 75. Geburtstag die verstimmten Zithern von zwei Schlagwerkern gespielt werden sollten.

Bis heute fasziniert mich seine Neugierde und dass ihm, Pierre Boulez, keine Krone vom Haupt fällt, wenn er etwas nicht weiß und dies – ohne agassierten Ton – ausspricht . Während der Durchsicht der Partitur löste ich mich vor Nervosität beinahe auf. Wir sprachen aber schon bald darauf heiter über "Brevets d'invention", ein Buch, das ich bis heute besonders mag, und das ich, weil ich meine Umgebung immer schnell scanne, in seiner Bibliothek entdeckt hatte. Mit diesem ironischen, leichten Gespräch über utopische, auch sinnlose Erfindungen war für mich der Bann gebrochen. Ich hatte keine Angst mehr vor ihm.

Er brachte mich zum Bahnhof und mein Zug fuhr, unglaublicherweise, in ein deutsches Niemandsland: Der Zug hatte sich verfahren und rollte irgendwo durch verschneite (romantische) Wälder. Für mich kam es wie ein Zeichen für sein oder mein oder unser Denken: dass der Prozess des Schreibens, Komponierens, des Musik-Machens an sich, keine Begradigung eines "Schlenkers" sein kann. Man landet immer im Ungewissen.

Besonders in Erinnerung ist mir ein unprätentiöses, angenehmes Abendessen (2002 in Luzern, mit Betty Freeman), bei dem er mir u.a. von seinem großen Interesse für Linguistik und andere Sprachen erzählte. Ich liebe diese Art von Begeisterungsfähigkeit, die heute eine Seltenheit geworden ist. Ich könnte ihm stundenlang zuhören. Wie viele Menschen erzählen heute tiefgründig und fein von Dingen, die ihr Inneres bewegen, oder vermitteln auf großzügige Art Wissen, ohne dabei ihr Ego ständig herauszuheben.

Eine kleine Slapstickszene, die für das Publikum im Saal nicht sichtbar war, müssen wir beide am 4.2.2000 abgegeben haben, als ich mich nach der Aufführung meines Stückes mit einer schwarzen Trauerschleife verbeugte. Es war der Tag der Angelobung der neuen rechten Regierungskoalition und ich hatte am Vortag vor der Wiener Staatsoper eine kleine Rede gehalten . Ich hatte etwas Kurzes vorbereitet, das ich in den übervollen Saal hineinsprechen wollte. Er sagte, nein, ich sollte das nicht tun, es wäre dem Orchester gegenüber unfair. Wir mussten uns verbeugen gehen und ich kämpfte auf der Bühne mit mir, sagen oder nicht. Kaum waren wir von der Bühne, ging das heftige Hin- und Her zwischen uns auf der Stiege zur Bühne weiter, wurde aber unterbrochen, da wir wieder auf die Bühne mussten. Das wiederholte sich mehrere Male, sodass ich schließlich lächelnd aufgab.

Ähnlich verhielt er sich mit mir auf der Bühne, denn ich mag "da oben" beim Applaus nicht stehen. Es ist mir äußerst unangenehm. Wie bändigt man eine ängstliche, grenzenlose Zweiflerin? Er hielt mich immer fest an der Hand, sodass ich nicht entkommen konnte oder stellte mich auf das Dirigentenpodest, sodass ich "eingezäunt" war. Viele andere Dirigenten und Musiker haben mich dafür gerügt, mir lange Moralpredigten gehalten, einer hat mich sogar "in die Ecke" gestellt und gemeint, ich würde mir so meinen weiteren Weg vermiesen. Er nicht, er machte es unauffällig, mit Güte und Humor. Er hat es nicht notwendig zu belehren.

Um zu zeigen, wie unterschiedlich wir sind, eine kurze Geschichte aus einem gemeinsamen Radio-Interview in Luzern. Auf die bekannte Frage "Was würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?" antwortete Boulez knapp: "Nichts, ich habe alles im Kopf". Und ich: "Ich würde alles mögliche mitnehmen, ich kann mich so schwer entscheiden." Boulez würde der festgefügten Normalität/der Norm entkommen und eine Grenzüberschreitung zu unberührten Stränden der Utopie erreichen, würde ankommen auf der Insel, weil er keinen Ballast mit sich trägt. Und wenn, nur im Hirn. Ich aber würde die Insel nicht erreichen, würde zwar anrudern gegen das Gewicht der Dinge bis der Irrsinn kommt, aber vor der Insel untergehen.

Das beeindruckende ist seine Klarheit, Ruhe und "gesunde Vernunft" - aber es ist bei ihm aus meiner Sicht nicht nur Vernunft, die in den meisten die Welt austrocknet. Das große Ziel der Rationalisierung ist, die Differenz durch induktive Generalisierung zu eliminieren. Es ist klar, dass wissenschaftliche Diskurse einer inneren, algebraischen Logik folgen, in der Zeichen unzweideutig für Begriffe stehen. Siehe dazu Boulez eloquente theoretische Texte zur Musik und zum Komponieren.
Das Beschreiben des Unbeschreiblichen setzt in ihm den Poeten frei. Er weiß, dass der wache Realist und Wissenschaftler auch Träumer sein muss, dass (musikalische) Zeichen von Natur aus ambig sind und immer von einem Zustand in den anderen fließen. Er arbeitet zwar ganz zielbewusst an einer "Kulturarbeit der Trockenlegung" der Kultur-Sümpfe, aber – wie man besonders an "Repons" mit all seiner widerspenstigen Topographie und von Strudeln durchsetzten Meeren hören und in der Partitur auch sehen kann – an keiner "terra firma" der reinen Rationalisierung.

Alles bleibt im Prozess, auch wenn es nicht sogleich sichtbar ist, aber Abweichungen und Turbulenzen werden nicht beseitigt. Aus meiner Sicht gibt es trotz allem rational genauest durchdachten Material ein universelles Fließen und ein Wissen, dass man die Quellen des Gedächtnisses (und der Tradition) nicht einfach trockenlegen kann. Dass sich Musik und Schreiben nicht auf ein Instrument rationaler Kommunikation reduzieren lässt. Er eliminiert in seinem Komponieren nie die poetische Dimension von Musik und Sprache, die erlauben, von einer Idee zur anderen zu strömen. Er verdrängt dies nicht. Durch die ständige Bewegungsform, einer Poesie des Flüssigen, die sich aus vielen Mikropassagen zusammensetzt, die gefährlich und unvorhersehbar sind, evoziert er eine Art von Stabilität.
Sie ist Gemeinschaft als Verräumlichung der Zeit und Verzeitlichung von Raum. Das Ziel für ihn, scheint mir, ist nicht, irgendwo anders anzukommen, sondern die Existenzbedingungen (auch des Komponierens) zu erhalten, wo immer man gerade ist. Es ist kein linearer Zeitsinn, sondern eher ein "Immer-Bereit und Immer-Noch-Nicht". Über allem steht sowieso die kalte Hand der Zeit, die, wie ein Wunder, in seinen Kompositionen für kurze Zeit schmilzt.

Diese ständige bewusste Gratwanderung zwischen Wachen und Träumen finde ich bemerkenswert. Abgesehen davon, dass ich ihm für immer dankbar bin, dass er meiner Anrufung, mir seinen Dirigenten-Schutz gegenüber den Wiener Philharmonikern zu geben, auch wirklich nachkam. Für mich ist er eine vorbildliche Autorität, eine natürliche Autorität ohne Allüren und Arroganz. Und mit feiner Ironie. Und gleichzeitig eine stetige Ahnung von möglicher Freiheit.

Olga Neuwirth - Gösing, Januar 2010

Olga Neuwirth: "Bählamms Fest - ein venezianisches Arbeitsjournal". Verlag Droschl 2003; Seite 241 und 242; 17.12.1998

Olga Neuwirth "Zwischen den Stühlen - a twilight-song auf der Suche nach der verlorenen Zeit". "Ich lasse mich nicht wegjodeln", Seite 128-129; Hrsg.: Stefan Drees. Verlag Anton Pustet, 2008




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