Ein Buch zum 80. Geburtstag von Pierre Boulez
mit Fotos von Philippe Gontier
Das Interview mit Olga Neuwirth führte Jean-Noel Van der Weid
Welche künstlerischen Bereiche außerhalb der Musik interessieren
Sie ?
Literatur und bildende Kunst, aber ganz besonders Architektur und Film.
Wie stehen Sie zu den aktuellen musikalischen Sprachen wie Jazz,
Rock und Techno ?
Höre ich mir alles gerne an, und picke mir das heraus, was ich für
meine Kompositionen anregend finde.
Wie schätzen Sie die Beziehungen ein zwischen der zeitgenössischen
Musik und den traditionellen musikalischen Institutionen (Oper, Orchester,
Konservatorien...)?
Das Verhältnis bleibt weiterhin erkaltet, wenn man nicht schon bekannte,
instant-funktionierende Ideen, Kompositionen und Inhalte für diese
starren Institutionen liefert.
Das Kino beeinflußt Ihr Werk. Was
hat Ihnen die Lektüre von Robert Bressons Notes sur le cinématographe
Neues vermittelt?
Diese Lektüre war für mich eine wichtige Anregung um über
ein “anderes Musiktheater” nachzudenken.
Denken Sie wie Eisenstein, daß man “die bestehenden Widersprüche
zwischen dem Sehen und dem Klang, zwischen der sichtbaren und der hörbaren
Welt abbauen und sie auf eine Einheit und ein harmonisches Verhältnis
zurückführen” muß?
Obwohl ich Eisensteins Filme wegen ihrer bildlichen und inhaltlichen
Radikalität und den unorthodoxen Kameraeinstellungen sehr schätze,
glaube ich nicht an eine Harmonisierung. Schon gar nicht, wenn Bild und
Klang gleichwertig eingesetzt werden. Das habe ich aus Erfahrung gelernt.
Dennoch möchte ich an das Gegenteil glauben: das Aufeinanderprallen-lassen
der beiden widersprüchlichen Parameter, was zwar meist eine Überforderung
der Wahrnehmung bedeutet. Denn ein hierarchisches Verhältnis zwischen
diesen beiden Sinnesempfindungen ist dem Hörer bzw. Zuseher verständlicher
und dienlicher.
Fragen Sie sich, wer in David Lynchs Lost Highway, ein Werk, das
Sie inspiriert hat, letztlich mit wem spielt? Ist es der Schöpfer mit
seinen Figuren, die Figuren untereinander oder die Figuren mit ihrem
Schöpfer? Hat Sie diese Interpretation des Werks interessiert?
Nein, nicht wirklich. Was mich viel mehr interessiert, ist das konstante
unerträgliche Machtspiel von Menschen mit Menschen und die Verletzungen,
die dadurch hervorgerufen werden, die Zeitphänomene in "Lost
Highway" und die Frage: was ist noch real und was ist schon irreal.
Wie entsteht ein Werk ?
Dafür gibt es keine Regel.
Würden Sie sagen : Ich bin keine Komponistin, ich bin jemand,
der schreibt ?
Ich bin Komponistin, denn das ist in unserer Gesellschaft noch immer
eine Rarität, ein U-Topos.
Woran denken Sie, wenn Sie komponieren ? Ist das eine idiotische
Frage?
Ja, denn es gibt nicht nur einen Gedanken.
Ist die ästhetische Lust nur ein Empfindung, ist sie sinnlich, oder
ist sie an ihre Vergeistigung gebunden ?
Aus meiner Sicht sinnlich und vergeistigt gleichzeitgig, das ist ja
das Spannende!
Ist Ihr Gehirn von Mikroben besetzt ?
Ganz bestimmt, sonst würde ich in unserer schnelllebigen Zeit
nicht komponieren. Die Mikroben haben eine Fehlprogrammierung im Hirn
bewirkt...
Muß sich die Kunst, um Neues zu schaffen, mit Zerstörung,
Provokation und Abweichung verbinden?
Nicht der reinen Provokation willen, aber dennoch als Mittel der Befreiung
und der konstanten Hinterfragung, um dadurch zu einem Komponieren bzw,
Denken jenseits der Befangenheit zu gelangen. Aber Zukunft braucht dennoch
immer wieder Herkunft...
Baudelaire sagte, Schönheit sei immer bizarr (La beauté est
toujours bizarre)…
Wie wahr!
Ihre Werke sind sehr vielfältig. Ist Unerkennbarkeit, Unetikettierbarkeit
und das nicht Festgefahrene Ihre Art zu kämpfen, zu denken, zu komponieren,
zu leben?
Ja, ich denke schon, denn ich möchte keine Petrifizierug von Herz,
Geist und Seele .
Gibt es etwas vor dem Sie Angst haben ?
Vor dem Leben an sich und vor Menschen, denen ich mein Vertrauen gegeben
habe und die mich dann genau dadurch verletzen.
Wie gliedern Sie sich in die Gesellschaft ein ?
Ich hoffe, so wenig wie möglich, denn vom Rande aus kann man skalpellartiger
wahrnehmen und man geht dadurch vielleicht dem vorhersehbaren Weg aus
dem Weg. Ja dieser Weg - diesem Militärdienst des Seins - auf den
man von Kindheit an geschickt wird, um Erfolg zu haben, zu siegen, zu
funktionieren, lustig, glücklich und schön zu sein, dem möchte
ich nicht gehorchen, was aber bedeutet, daß die Dinge ohne Kampfpause
nur so auf einen einstürzen...
Im Jahr 2000 haben Sie gegen die Regierungsbeteiligung der rechtsextremen
Partei FPÖ von Jörg Haider in ihrem Land mit einer Rede demonstriert:
Soll sich die Kunst engagieren? Kann sie den Lauf der politischen und
gesellschaftlichen Ereignisse beeinflussen?
Kunst kann leider gar nichts beeinflussen, aber man kann aufmerksam
machen und das ist schon sehr viel.
Oder ist die Musik, so wie es Nietzsche im Untertitel des Zarathustra
formuliert hat, für jeden und für keinen da, das heißt,
man soll Musik komponieren als ob sie nur für sich selbst da wäre?
Das Zwispältige an Musik ist, da sie die abstrakteste aller Kunstsparten
ist, daß sie einerseits Raum läßt für Unsagbares,
für Assoziatives, aber andererseits genau dadurch unglaublich manipulierbarer
ist und macht. Nur: keine Kunst ist für sich selbst da!
Gibt es heute nur noch eine Position : in einer ewigen Gegenwart
leben – dabei die Vergangenheit vergessen und von der Zukunft terrorisiert
werden ?
Das wird einem in allen Zeitschriften und von überall her ständig
gepredigt, damit sich der verlorene Mensch im Labyrinth des Daseins,
in der Illusionslosigkeit unserer Zeit, besser fühlen soll. Ich
glaube nicht an diese Position, denn dann dürfte man keine “Warum-Fragen” mehr
stellen und müßte alles hinnehmen, was um einen herum geschieht.
Komponistin : eine unmögliche Position ?
Keine unmögliche Posision, aber die Position existiert eigentlich
noch gar nicht.
(Olga Neuwirth, Dezember 2004)