© 1993
Die folgenden Überlegungen zu "Lonicera Caprifolium",
die ich bereits in meinem Vortrag bei den "Darmstädter Ferienkurse
1994" in Worte gefaßt habe, erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit
der im Stück vorkommenden Aspekte. Sie mögen nur ein Versuch
sein - da Erläuterungen und Erklärungen sofort zu Begrenzungen
und daher Verarmungen mutieren können - das festzuhalten, was mir
bei der Erstellung der Anlage und der Strukturen dieses Werkes für
Ensemble und ADAT-Band als bedeutend und markant erschien.
1 "In
der Tat hat einzig die Musik die Fähigkeit, nach ihrem Willen das
Unwahrscheinliche zu beschwören, die Welt zwischen Tag und Traum,
die heimlich webt in der geheimnisvollen Poesie der Nacht, im tausendfältigen
unnennbaren Flüstern der Blätter, die das Mondlicht zärtlich
kost.
"Die Unerbittlichkeit des Kampfes zwischen dem Verbinden und Zerstückeln,
zwischen Fortsetzung und Stillstand, zwischen Leben und Tod - eines also
konstanten Infragestellens von Widerstand und Reaktion, Kontinuität
und Bruch, Bewußtsein und Vergessen, Altem und Neuem - sind Hauptbegriffsfelder,
um meine Arbeit im allgemeinem zu beschreiben. So möge eben zwischen
diesen dialektischen Begriffen ein ständig presentes Spannungsfeld
aus Ordnungschaffen und der Dynamik des Zertrümmerns bzw. Zerstörens
entstehen.Durch das abrupte "Hin -und Herschalten" - wie beim
"Zapping" am Fernsehschirm - der verschiedenen Zustände
und Zeiteinheiten der Prozesse sollten sich die Sinne zu drehen beginnen,
sodaß es zu keiner voreiligen Versöhnung kommt und Raum geschaffen
wird für Unvorhersehbares.
Um etwas genauer auf das gerade vorher angeschnittene einzugehen, möchte
ich nun jeden kleineren Abschnitt meiner Ausführungen mit einem Zitat
aus Robert Bressons 2
"Notes on the Cinematographer" von 1975 beginnen, da Film wohl
die Kunstsparte ist, die mich am stärksten beeinflußt.
3 "...A system does not regulate
everything. It is a bait for something."
Geschlossene Teile, Systeme, die in meiner Arbeit, aber in diesem Stück
im besonderen, am ehesten biologischen Systemen 4
ähneln, in denen sich dynamische Gewebe selbst aufbauen, verändern
und auflösen, die unabhängig funktionieren und sich trotzdem
koordinieren lassen, werden aufeinander gehetzt, ergänzen sich, löschen
sich aus oder mutieren gemeinsam zu einem anderen, neuen Gebilde. Diese
Teilsysteme sind der Auslöser für ein in Gang gesetztes Spiel
mit diskontinuierlichen, geschlossenen Klangfeldern, die eine gewisse
Dauerhaftigkeit besitzen. Es sind oft Klangfelder, die aus klischeeartigen
Gesten gestaltet sind und sich daher, wie in der bildenden Kunst, verfremden,
bearbeiten und transformieren lassen. Diese biologisch anmutenden Systeme,
in denen die Prozesse im Untergrund das Spannenste sind, sind auch für
die Form an sich für mich bedeutend. Das Konzept der Einheit von
Innen und Außen, zwischen großem Entwurf und jedem kleinsten
Detail - welches Frank Lloyd Wright in seinen von organischen Formen durchdrungenen
Bauten "The organic Architecture" nannte - soll eine ständige
Erneuerung im Formablauf ermöglichen.Darauf möchte ich auch
gleich mit einem weiteren Zitat von Bresson reagieren:5
"Mark out clearly the limits within which you seek to let yourself
be surprised by your model. Infinite surprises within a finite frame."
Von der biologischen Präsenz von Gebilden ist kein großer Schritt
mit Riesenstiefeln mehr zu tun, um zur physischen Präsenz von Klängen
zu kommen, die in "Lonicera Caprifolium", wie ich denke, sehr
wohl eine bedeutende Rolle spielt. Klänge aufblitzen lassen, sodaß
ein Sog aus Bestürtzung und Faszination entsteht, der den Klang als
eine in die Zeit projizierte und physikalische Komponente in all seiner
Körperlichkeit spürbar werden läßt, soll ein Spannungsfeld
erzeugen. Das Aufeinanderprallen von Klangausbrüchen und leisen,
zartesten Klängen - man könnte diese als Resonanz der vorher
erwähnten ansehen - , erzeugt Schwingungen und Vibrationen. Am Beginn
des Stückes, wo Akkordschläge vom Tonband (manchmal auch in
Kombination mit dem Ensemble) in immer größer werdenden Abständen
sozusagen von deren Nachklängen verlassen werden, ist das vorher
angesprochene der Fall. Diese Ausklänge beginnen ein Eigenleben von
nervösen, kleinen, leisen Tonfolgen zu leben, die dann doch immerwieder
von abrupt einsetzenden Attacken unterbrochen werden, um dadurch ihre
Richtung zu ändern. Klangmassen, deren Bewegungen in verschiedensten
Erscheinungsformen gestaltet sind, wie z.B. pendelnde multiphonics-Klänge
der Holzbläser, oder die bis zum Wandern gebrachte Klangkonfigurationen
durch Instrumentalgruppen und die um das Ensemble in Halbkreisform postierten
acht Lautsprecher, unterscheiden sich in ihrer Ausstrahlung durch verschiedene
Dichtheitsgrade. Aber es geht mir nicht um ein Zelebrieren von prozeßhaften
Naturereignissen, sondern sehrwohl um strukturelle Brechung der Klangmittel.
6 "An image must be transformed
by contact with other images as is a colour by contact with other colours.
A blue is not the same blue beside a green, a yellow, a red. No art without
transformation!"
Durch die Anhäufung von Transformationen uns wohlbekannter, verschiedenartiger
Gesten (besonders artikuliert durch die äußerst kurzen Einspielungen
von zwei Baß-Ganben und
zwei Theorben) zu letzten Zuckungen, Pseudo-Aktivitäten, sowie toten
Bewegungen, die ins Nichts führen, soll ein Energiepotential entstehen
- das dem Scheitern abgerungen ist - um zu versuchen, mit diesem die Leere
am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zu überspringen, und mit Benjamin
zu erläutern: die "Abfälle der Geschichte einzusammeln
und für deren Ende zu retten". Diese Energie, die in dem Augenblick
entsteht, wo Gewesenes und Jetzt "blitzhaft" zu einer Konstellation
zusammentreffen, fasziniert mich und bedeutet für mich ein Mittel
gegen die Erstarrung und Verkrustung. Je mehr man aber das Verlorene retten
möchte, desto mehr steuert man dem Ruin zu.
Zu diesem überhöhten Manierismus - dem Fehlen an Kargheit -
von wuchernden Gesten und Ornamenten gehört, wie im Barock, die Theorie
der Überraschung, der Bestürzung, des Anschwellens von Innen
her, sowie die erstarrte Bewegung bzw. erstarrte Unruhe, dieses Sinnbild
der Ungeduld.
Nach zwei Drittel des Stücks ist so eine "bewegte Starre",
dieser paradoxe Bewegungszustand, zu finden. In den immerwiederkehrenden
Trillern, kleinsten Bewegungen und zerbrechlichen Mehrklängen der
Holzbläser erscheint die Vergänglichkeit, die Künstlichkeit
des Klingenden, bis sich aus dem erreichten Einzelton f1 ein elektronisch
generierter Klangfächer öffnet, dem die Instrumente zu folgen
versuchen. Um diesen gespannten Klangraum schwirren schnelle ornamentale
Floskeln als Reminiszenz an die Anfangsphase.
7 " On Fragmentation. This
is indispensable if one does not want to fall into REPRESENTATION. See
beings and things in seperate parts. Render them independent in order
to give them a new dependence."
Die fragmentierten Gesten, diese Kleinstrukturen, bei denen man nicht
weiß, wo sie hinführen, sollen eine gewisse arielhafte Spiritualität
besitzen. Die Gangart der Partikel, die ununterbrochen in Bewegung sind,
ist kaum fixier -oder benennbar. Das heißt, wenn auch in den spannendsten
Momenten mehrere Elemente eine gemeinsame Tendenz bzw. Abhängigkeit
entwickeln, so kann man das ruhig laufen lassen. Aber wenn sich das einmal
zu verfestigt hat, kann ich sofort wieder eingreifen und den Bogen abzwicken,
abreißen. Sozusagen mit der Brechstange das ohnehin unvermeidliche
Stadium der Zersetzung hervorrufen, um die gemeinsam erschaffene Klangfläche
zugunsten der Leere zu zerstören. Und so geht es immer weiter und
weiter ... . Wie im Leben, in dem man oft der Wärme der Gemeinschaft
bedürftig gewesen wäre, diese aber verloren findet. So tritt
man die Flucht nach vorne an: in die Gesellschaft der toten Dinge, in
den Zynismus der gewollten Entfremdung. Die Kälte und die Maske werden
zum Lebenselixier. Erst durch die geschaffene Distanz erscheint eine gewisse
Art einer eigenen Authentizität der Empfindungen. Die Subjektivität
hinter der Glaswand. Natürlich wächst aber auch damit die Wüste
- innerlich wie äußerlich. Bei Ernst Lubitsch, als Beispiel,
finden alle Distanzierten und Maskierten, alle Dandys der Maske und des
Scheins den Weg zur Komödie. Auch das ist mir sehr wichtig, denn
die Kunst der Komödie, ist die der Verkürzung. Denn in einer
Welt mit ihren unzähligen, unlösbaren Spannungen und Problemen
ist Humor und das Grimassenschneiden oft die beste Waffe um gegen das
Schicksal aufzubegehren. Gibt es in "Lonicera Caprifolium" nicht
einen gewissen (klanglichen) Sarkasmus? 8"Montesquieu
says, about humour, that it´s difficulty consists in making
you find in the thing a new feeling which nevertheless comes from the
thing."
Ein weiterer Aspekt meiner kompositorischen Arbeit ist die in all meinen
letzten Stücken verwendete Elektronik als Mittel der Erweiterung
und zur Erzeugung von "androgynen" Klängen. Es geht mir
nicht um einen Dialog zwischen elektronischen Klängen und Instrumentalklängen,
sondern um eine Fusion, einen Hyperklang oder auch ein Hyperinstrument.
Das Verschmelzen der beiden widersprüchlichen Klangquellen ist doch
das Spannende! Die Ambiguität also, daß man nicht mehr weiß,
was was ist. Konstante Vexierbilder! Eine Welt der "Twilight-zone"...
Die Phasen der Ausdehnung mit ihren steigenden Aktivitäten und Dynamiken,
bei denen an bestimmten Punkten ein Maß an Komplexität erreicht
wird, d.h.: wenn die Illusion des nie Aufhörenden und des endgültig
Gefestigten am stärksten ist, müssen - für mich - plötzlich
und schockhaft unterbrochen werden, sodaß das Zerreißen nocheinmal
wirkt. Ein schreiendes Loch. So setzt z.B. nach der Hälfte des Stücks
plötzlich das elektronische Solo aus generierten Gittarrenklängen
- die Erweiterung der vorher erklungenen Theorben - ein.
Eigentlich möchte ich nur eine elastische Spannung zwischen kultivierter
Künstlichkeit und Ultrarealismus, zwischen Realität und Traum,
Lachen und Schrecken mit Spontaneität aufrecht erhalten, in der man
erkennt, daß uns die "moderne" Welt gleichermaßen
fremd wie vertraut ist, und gerade damit möchte ich spielen. Darum
auch: Vive la crise! Und schließlich kann ich nicht leugnen, daß
ich bei allem, was ich denke und tue, ein "österreichischer
Depressionist" bin.
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1 Claude Debussy: Monsieur Croche - Sämtliche
Schriften und Interviews. Opéra-Comique: "Titania" von
Hüe.
Reclam, Seite 85/86
2 übersetzt aus dem französischen
Original von Jonathan Gruffin. (Es existiert keine deutsche Fassung.)
3 Bresson: Quartet Books, Seite 11
4 Der Titel des Stückes ist einer "alles
verschlingenden Kletterpflanze" entnommen, die sich nicht aufhalten
läßt und andere Pflanzen um sie herum zerstört, um selbst
noch schöner erblühen zu können.
5 Bresson: Quartet Books, Seite 96
6 Bresson: Quartet Books, Seite 9
7 Bresson: Quartet Books, Seite 84
8 Sa difficulté consiste à
vous faire trouver un sentiment nouveau dans la chose qui vient pourtant
de la chose. Bresson: Quartet Books, Seite 127
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