Von Stefan Drees
In einer Zeit, in der traditionelle Gattungsbezeichnungen wie "Sonate" oder "Sinfonie" als Benennungen neuer musikalischer Werke kaum noch Verwendung finden, kann der Titel einer Komposition dem Hörer im Idealfall als Schlüssel für das Verständnis der Musik dienen oder ihn auf wichtige Gedankenzusammenhänge aufmerksam machen. So fungieren auch in den Werken der österreichischen Komponistin Olga Neuwirth die Titel niemals als willkürliche Benennung; sie verraten vielmehr etwas über die vielfältigen Anregungen, denen sich ihre Musik verdankt. Daher sind sie auch als Chiffre für jene Impulse zu verstehen, die zur künstlerischen Auseinandersetzung mit bestimmten Ideen - etwa solchen aus Bildender Kunst oder Literatur - führten, das musikalische Denken in bestimmte Kanäle lenkten und schließlich durch verstandesmäßige Reflexion die Grundlage zur Hervorbringung wahrnehmbarer Werkgestalten führten. Dies trifft auch auf Olga Neuwirths neue Komposition "torsion: transparent variation" für Fagott und Ensemble zu, die von dem Fagottvirtuosen Pascal Gallois initiiert wurde und ihm gewidmet ist. Der zweiteilige Werktitel spielt auf zwei plastische Arbeiten des Konstruktivisten Naum Gabo (1890-1977) an, die als imaginärer Ausgangspunkt für die musikalischen Details des Werkes dienten. Gabos Plastiken zeichnen sich durch dynamische Rhythmen und imaginäre Bewegungen nach vorne aus, wobei letztere den illusionistischen Hauptzweck seiner Kompositionen aus Linien und Massen bilden. "torsion: transparent" transportiert diesen konstruktiven Gedanken auf die Ebene der musikalischen Konstruktion und vermittelt ihn durch die beiden Antipoden Fagott und Ensemble, deren Agieren sich als komplexe Wechselwirkung von linearen Elementen (Fagott) mit Klangmassierungen (Ensemble) darstellt. Die auf diese Weise entstehende Musik ist von Fragmenten, dynamischen Bewegungen, wiederkehrenden Rhythmen und dem ständig erzwungenen Abbruch ins scheinbar Leere geprägt, aus dem heraus sie immer wieder von Neuem beginnt. Gerade dieses Kennzeichen verweist auf eine zweite Idee, die Einfluss auf Olga Neuwirths Werkkonzeption hatte: die sogenannten VOIDs, also jene architektonischen Leerstellen, die der Architekt Daniel Libeskind im Jüdischen Museum Berlin - angeregt durch Arnold Schönbergs musikalischen Torso "Moses und Aaron" - geschaffen hat. Auch "torsion: transparent variation" kennt solche Leerstellen: in ihnen kann die Musik in einer geheimnisvollen, unhörbaren Dimension weiterexistieren - als Quasi-Kontinuität des Klingenden, die eine Aussage vermeidet, um damit auf etwas Unsagbares hinzuweisen.